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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Haaren herum. Sie braucht irgendeine Aufgabe.
    »Mom, kannst du mir einen Hut besorgen?«
    »Was denn für einen?«
    Mir fällt nur eine einzige Kopfbedeckung ein, die ich habe, die keine Skimütze ist: ein riesiger Sonnenhut aus Stroh. Aber ich bin eindeutig nicht in einem Tropenurlaub oder am Rand eines Swimmingpools. Ich besitze jede Menge Bandanas und Halstücher, mit denen ich meinen Kopf bedecken könnte, aber ich will nicht wie eine Krebspatientin aussehen. Ich will normal aussehen wie jemand, der theoretisch in zwei Wochen wieder zur Arbeit gehen könnte. Und ich will den Kindern keinen Schrecken einjagen.
    »Kannst du mir einen kaufen?«
    »Wo denn?«
    »In der Prudential Mall.«
    Sie blinzelt ein paarmal. Ich weiß, dass sie nach einem Ausweg aus dieser geplanten Expedition sucht. Ich weiß nicht, wo das ist, ich weiß nicht, was für eine Art Hut du willst, ich will meinen Platz nicht verlieren .
    »Ich brauche eine Adresse«, sagt sie.
    »800 Boylston Street.«
    »Bist du sicher, dass die stimmt?«
    »Ja, ich arbeite dort.«
    »Ich dachte, du arbeitest bei irgendeinem Wirtschaftsunternehmen.«
    Sie sagt es, als hätte sie mich eben bei einer Riesenlüge ertappt, als würde ich in Wirklichkeit bei Gap arbeiten, genau wie sie es schon die ganze Zeit vermutet hat.
    »Berkley hat seinen Sitz in der Mall.«
    »Oh.«
    Ich wünschte, ich könnte selbst hinfahren. Ich würde mir bei Neiman Marcus oder Saks Fifth Avenue irgendetwas Hippes und Hübsches kaufen, und dann würde ich auf der Arbeit vorbeischauen, mich bei Jessica und Richard melden, feststellen, wie es mit den Personalbeurteilungen aussieht, alle Fehlentscheidungen korrigieren, die Carson im Moment in Bezug auf unsere nächste Generation von Beratern trifft, und vielleicht an ein oder zwei Besprechungen teilnehmen, bevor ich wieder zurückkomme.
    »Aber du hast in ein paar Minuten Therapie«, wirft sie ein.
    »Da musst du nicht dabei sein.«
    »Ich muss sehen, was sie machen, damit ich dir helfen kann.«
    »Ich brauche wirklich einen Hut, bevor die Kinder hierherkommen. Ich will nicht, dass sie mich so sehen, und es könnte voll sein auf den Straßen. Du kannst morgen bei der Therapie dabei sein.«
    Oder am nächsten Tag. Oder am übernächsten.
    »Bist du sicher?«, fragt sie.
    »Ja, wirklich.«
    »800 Boylston Street«, wiederholt sie.
    »Du sagst es.«
    »Und du berichtest mir, was in der Therapie los war, wenn ich zurückkomme.«
    »Ich werde dich über alles unterrichten.«
    Oder zumindest über die Hälfte von allem.
    Meine Mutter schreibt die Adresse auf eine Quittung, die sie in ihrer Handtasche findet, ich versichere ihr noch zweimal, dass sie die richtige Adresse hat, und dann geht sie endlich. Ich entspanne mich und sehe mir wieder Ellen an. Sie lächelt und plaudert mit irgendjemandem namens Jim. Er klingt wie Jim Carrey. Nach ein paar Minuten geht mir der Gedanke durch den Kopf, dass ich Jim Carrey sehen können sollte. Aber das kann ich nicht. Ich versuche es. Aber ich kann es trotzdem nicht. Ich kann nur Ellen sehen. Was, wenn ich die Person, mit der Ellen redet, niemals sehen können werde? Was, wenn die Reha nichts bringt? Was, wenn das hier nie mehr weggeht? Was, wenn ich nie wieder zurück auf die Arbeit kann? Ich kann so nicht leben.
    Ich will mir Ellen nicht länger ansehen und gucke aus dem Fenster. Es ist ein klarer, sonniger Tag, und in dem grellen Spiegelbild in der Scheibe sehe ich meinen hässlichen kahlen Kopf. Ich will mich nicht mehr ansehen, aber ich habe nur die Wahl zwischen Ellen, meinem hässlichen kahlen Kopf und dem Gefängnis. Ellens Gast, wer immer er ist, sagt irgendetwas, das sie erheitert, und Ellen lacht, während ich die Augen schließe und weine.
    »Morgen, Sarah.«
    Der Stuhl ist leer. Der Fernseher ist ausgeschaltet. Die Stimme klingt vertraut, aber ich kann sie nicht einordnen.
    »Hallo?«, frage ich.
    »Ich bin hier drüben.«
    Ich drehe den Kopf zur Seite. Ich sehe das Gefängnis.
    »Okay, wir werden daran arbeiten«, sagt die Frauenstimme.
    Dann erscheint die Frau auf dem Stuhl meiner Mutter. Es ist Heidi, Bens Mom. Das ist ein bisschen merkwürdig. Ich hätte nicht erwartet, dass sie sich tagsüber Zeit nimmt, um mich zu besuchen. Vielleicht hat sie mir irgendetwas über Charlie und die Schule zu erzählen. Gott, ich hoffe, er hat keinen Ärger.
    »Na, kriegst du im Vor-Schulbeginn-Programm nicht genug von mir?«, fragt sie lächelnd.
    Ich erwidere das Lächeln, aber ich verstehe nicht, worüber

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