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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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bisschen schneller, als ich mir den extragroßen Styroporbecher vorstelle, warm in meiner Hand, randvoll mit himmlischem Vanille-Latte. Wo zum Teufel ist meine Uhr?
    »Ich sitze links von dir. Kannst du mich sehen?«
    »Nein.«
    »Folge meiner Stimme. Immer weiter, an dem Fernseher vorbei.«
    »Ich kann nicht.«
    An dem Fernseher vorbei ist nichts.
    »Mmm, dieser Kaffee war ja sooo gut«, schwärmt sie und quält mich, indem sie mir ins Gesicht atmet.
    Ich versuche mir vorzustellen, wie der Kaffeeduft als ein sichtbarer Kondensstreifen aus Heidi strömt. Ich bin eine Comic-Maus, die ein riesiges Stück Schweizer Käse erschnuppert.
    »Ich kann nicht.«
    »Doch, du kannst. Folge meiner Stimme. Komm schon, sieh nach links.«
    »Ich habe das Gefühl, alles anzusehen, was in diesem Zimmer ist. Aber ich weiß, dass du im Zimmer bist, das heißt, ich tue das offenbar nicht, aber es kommt mir so vor.«
    Das, was ich wahrnehme, und das, von dem ich weiß, dass es wahr ist, führen Krieg in meinem Kopf, bekämpfen sich bis aufs Blut, bereiten mir riesige Kopfschmerzen. Oder vielleicht brauche ich auch nur einen riesigen Kaffee.
    »Okay, versuchen wir es mit ein bisschen Stimulation. Spürst du das?«
    »Ja.«
    »Wie fühlt es sich an?«
    »Wie ein Klopfen.«
    »Gut. Worauf klopfe ich?«
    »Auf meinen Handrücken.«
    »Den Handrücken welcher Hand?«
    Ich sehe auf meine rechte Hand.
    »Meiner linken?«
    »Gut. Jetzt versuch dorthin zu sehen, wo ich klopfe.«
    Ich sehe hinunter. Mein Bauch wölbt sich peinlich weit, bis auf meinen Schoß. Ich hatte gehofft, vielleicht wenigstens ein paar Pfund abzunehmen, solange ich hier bin, weil ich ja offenbar nur die Hälfte des Essens auf meinem Teller esse. Aber selbst mit der seltsamsten Diät aller Zeiten verliere ich offenbar nicht ein Gramm.
    »Sarah, bist du noch bei mir? Sieh auf das, worauf ich klopfe.«
    »Ich kann es nicht mehr spüren.«
    »Okay, schalten wir mal einen Gang höher. Wie ist es jetzt?«
    Ich sehe, dass sich am Rand des Zimmers irgendetwas bewegt, aber es ist zu verschwommen und unbeständig, um zu erkennen, was genau es ist. Dann, auf einmal, wird es scharf.
    »Ich sehe deine Hand!«
    »Sieh noch mal hin.«
    »Ich sehe, wie sich deine Hand auf- und abbewegt.«
    »Fallen dir irgendwelche Details an der Hand auf?«
    Details an der Hand. Augenblick. Es war schon schwer genug, die Hand ausfindig zu machen und zu identifizieren, und jetzt will sie auch noch Details. Ich gebe mir alle Mühe, die Bewegung ihrer Hand in meinem Gesichtsfeld zu behalten, dehne meine Konzentration so unangenehm weit an den Rand des Gesichtsfelds aus, dass es mir vorkommt, als würde ich versuchen, etwas zu beschreiben, was an meinem eigenen Hinterkopf ist. Ich will eben schon aufgeben, als ich bemerke, dass die Hand einen Smaragdschliff-Diamantring und eine Cartier-Uhr trägt.
    »Oh mein Gott, das ist meine Hand!«
    »Gut gemacht, Sarah.«
    »Ich sehe meine linke Hand!«
    Ich klinge wie Lucy, die allen verkündet, dass sie sich ganz allein die Schuhe zugebunden hat.
    »Gut. Und wie spät ist es auf deiner Uhr?«
    Ach ja. Das Ziel. Ich bin so kurz davor, diesen Kaffee zu bekommen, dass ich ihn fast schon schmecken kann. Lies die Uhr. Aber während ich damit beschäftigt war, mir zu gratulieren, dass ich meine linke Hand sehen kann, und mich auf meine bevorstehende Belohnung zu freuen, ist etwas Schreckliches passiert. Meine linke Hand ist verschwunden. Ich versuche, noch einmal dasselbe zu tun wie eben, um sie wieder sehen zu können, aber ich hatte mich nicht an irgendeine vorgeschriebene Abfolge methodischer Schritte gehalten, um sie zu finden, und offenbar kann ich die Erfahrung nicht wiederholen. Die Hand ist einfach wie durch Zauber erschienen. Und dann wieder verschwunden.
    »Ich habe meine Hand verloren.«
    »Ach, das macht nichts. Das kommt vor. Dein Gehirn wird sich sehr schwer damit tun, die Aufmerksamkeit auf der linken Seite aufrechtzuerhalten. Wir werden dir helfen, sie zu verlängern.«
    »Ich denke, ich sollte die Armbanduhr ab jetzt besser am rechten Handgelenk tragen.«
    »Okay, und wie wirst du sie dann anlegen?«
    Ich starre auf mein rechtes Handgelenk und begreife, dass es unmöglich ist, das zu bewerkstelligen.
    »Meine Mutter?«
    »Ich denke, du solltest die Uhr an deinem linken Handgelenk belassen. Das werden wir gut als Übung benutzen können. Und ich weiß, dass deine Mom hier ist, um dir zu helfen, und im Augenblick ist das auch okay, aber langfristig ist es keine

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