Mehr als nur ein halbes Leben
gute Lösung, dass sie dir das abnimmt.«
Ich könnte ihr nicht mehr recht geben.
»Aber es wäre schön, die Uhrzeit zu wissen«, sage ich.
»Wie wär’s, wenn du dafür dein Handy benutzt?«, schlägt sie vor.
Ich würde mein Handy sehr gern benutzen, aber ich habe mein Handy seit dem Unfall nicht mehr benutzt, weil Bob es mir nicht geben will. Immer wieder flehe ich ihn an, es mir zu bringen. Mein Terminkalender und meine E-Mails sind in meinem Handy. Und meine ganzen Kontakte. Dieselben Daten waren auch auf meinem Laptop gespeichert, aber mein Laptop wurde bei dem Unfall zusammen mit dem Acura zerstört. Daher brauche ich unbedingt mein Telefon.
Aber Bob hält mich immer wieder hin, wenn ich das Thema zur Sprache bringe. Oh, ich kann es nicht finden. Oh, ich habe es vergessen. Oh, ich bringe es dir morgen mit . Oh, er ist so durchschaubar. Er will nicht, dass ich irgendwelche Zeit mit Gedanken an die Arbeit verbringe, solange ich hier bin. Er meint, ich sollte mir die Arbeit aus dem Kopf schlagen und hundert Prozent meiner geistigen Energie darauf verwenden, wieder gesund zu werden. Und er meint, wenn ich nebenbei ein bisschen Arbeit zu erledigen versuche, wird mich das nur völlig stressen, und dass ich im Augenblick keinen zusätzlichen Stress brauchen kann.
Zu einem gewissen Grad gebe ich ihm ja recht, und ich arbeite ja auch so hart ich kann, um alle Aufgaben zu erfüllen, die die Schwestern und Therapeuten mir stellen, aber es gibt hier in Baldwin eben auch viel Leerlauf. Ich habe täglich drei Stunden irgendeine Art von Therapie. Und die Mahlzeiten könnte man ebenfalls als Gelegenheiten zählen, irgendetwas zu lernen. Zum Beispiel versteckt Martha meinen Nachtisch immer auf der linken Seite meines Tabletts (und wenn ich ihn nicht finden kann, ist meine Mutter, die Gute, stets hilfsbereit zur Stelle). Das heißt, wenn ich die Mahlzeiten mit einrechne, sind es vielleicht noch einmal zwei Stunden. Aber das ist dann auch wirklich alles. Fünf Stunden täglich. Ich könnte leicht ein paar E-Mails und Telefonate unterbringen, ohne es zu übertreiben. Ein paar Telefonate täglich könnten meinen Stresspegel vielleicht sogar senken.
»Bob will mir mein Telefon nicht geben«, verpetze ich ihn.
Heidi geht hinüber zum Stuhl meiner Mutter.
»Ist es das?«, fragt sie, mein Handy in der Hand.
»Ja! Wo hast du es gefunden?«
»Es lag auf dem Tisch links von dir.«
Großer Gott. Ich frage mich, wie lange es schon an diesem unsichtbaren Ort neben mir gelegen hat. Ich stelle mir vor, wie Bob es dorthin gelegt und sich gedacht hat: Sie kann es gern benutzen, wenn sie es finden kann .
»Hier«, sagt sie und reicht mir meinen lange verloren geglaubten Freund. »Die Uhrzeit hast du nicht gefunden, aber du hast deine Hand gefunden und für ein paar Sekunden deine Uhr gesehen. Ich gehe jetzt nach unten und hole dir einen Kaffee.«
»Wirklich?«
»Aber ja. Welche Sorte?«
»Vanille-Latte. Extra groß. Vielen Dank.«
»Sollst du haben. Ich könnte auch noch einen vertragen. Wir werden mit Kaffee in der Reha anfangen und uns allmählich zu Wein in meinem Wohnzimmer vorarbeiten. Abgemacht?«
»Abgemacht.«
»Okay, bin gleich wieder da.«
Ich höre, wie die Tür auf- und zugeht, und dann bin ich wieder allein in meinem Zimmer. Meine Mutter ist in der Mall, Heidi holt Kaffee, ich habe mein Handy, und ein paar kurze Augenblicke lang war ich mir meiner linken Hand bewusst. Ich lächle. Es geht mir vielleicht noch nicht gut, aber ich würde sagen, es geht mir schon ein bisschen besser als nicht so gut.
Also, wo soll ich anfangen? Ich denke, als Erstes werde ich Jessica anrufen und mich über alles auf den aktuellen Stand bringen lassen, was seit dem Unfall passiert ist. Dann Richard. Wir werden eine Strategie entwickeln müssen, wie ich von hier aus am besten arbeiten kann. Dann Carson. Ich kann es kaum erwarten, ihre Stimmen zu hören. Ich drücke auf den Einschaltknopf, aber nichts tut sich. Ich drücke ihn immer wieder. Nichts. Der Akku ist leer.
Und ich habe keine Ahnung, wo das Ladegerät ist.
ZWÖLFTES KAPITEL
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Meine Mutter ist seit einer Ewigkeit fort. Ich kann mir nicht vorstellen, wofür sie so lange braucht. Es ist ein seltsames Gefühl, mir zu wünschen, dass meine Mutter zu mir zurückkommt. In diesen Brunnen werfe ich schon lange keine Münzen mehr. Aber hier sitze ich aufrecht in meinem Krankenhausbett, begrüße Jessica und Richard und versuche, mich normal zu verhalten, während ich
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