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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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wünschte, meine Mutter würde sich beeilen und endlich wiederkommen. Ich brauche diesen verdammten Hut.
    Jessica reicht mir eine riesige und schwere Schachtel Schokolade-Erdnussbutter-Fudge, setzt sich auf den Stuhl meiner Mutter und fragt mich, wie es mir geht.
    In meiner besten, selbstbewussten Alltagssprache, als sei das alles gar nicht der Rede wert, antworte ich: »Gut. Schon viel besser«, und danke ihr für den Fudge.
    Ich biete ihnen ein Stück davon an, aber sie sagen beide: »Nein, danke.«
    Ich wühle in der Schachtel nach dem größten Würfel und stecke ihn mir ganz in den Mund. Großer Fehler. Jetzt bin ich durch all die Schokolade und Erdnussbutter außerstande, ein Gespräch zu beginnen, und Jessica und Richard kommen mir auch nicht entgegen. Sie sehen mir nur beim Kauen zu. Die Stille fühlt sich noch schwerer und unangenehmer an als der riesige Fudgeklumpen in meinem Mund. Ich versuche, schneller zu kauen.
    Das Bild von mir, das sich in Jessicas Miene spiegelt, ist nicht sehr schmeichelhaft. Die OP-Narben, die Prellungen, die Kahlheit am ganzen Kopf. Ich bin ein Horrorfilm, und sie würde am liebsten ihr Gesicht in irgendjemands Schulter vergraben. Ihre guten Manieren verhindern, dass sie den Blick abwendet, aber es ist nicht zu übersehen, dass mein Aussehen ihr Angst macht. Das ist nicht das selbstbewusste Bild von Gesundheit und Kompetenz, das ich zu vermitteln hoffte. Wo zum Teufel bleibt meine Mutter mit diesem Hut? Endlich schlucke ich.
    »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind. Ich hätte mich selbst gemeldet, aber mein Handy war nicht aufzufinden, und mein Laptop hat den Unfall nicht überlebt. Wenn Sie mir per Kurier einen schicken, kann ich leicht von hier aus arbeiten.«
    »Machen Sie sich keine Sorgen um die Arbeit, Sarah. Wir werden uns um alles kümmern, bis Sie wiederkommen«, verspricht Richard.
    Jessica nickt, Abscheu und Entsetzen scheinen durch ihr gequältes Lächeln.
    »Aber ich muss bei der Rekrutierung wirklich alle Fäden in der Hand behalten. Jetzt läuft die heiße Phase. Mein Postfach quillt bestimmt über.«
    »Wir haben Ihre ganzen E-Mails an Jessica und Carson weitergeleitet. Lassen Sie die beiden die heiße Phase abwickeln«, sagt Richard.
    »Ja, keine Sorge«, pflichtet ihm Jessica bei, wobei sie ungefähr so besorgt aussieht, wie ein Mensch nur aussehen kann.
    Natürlich, sie mussten meine ganzen E-Mails weiterleiten. Das ist sinnvoll. Sie wussten nicht, wie lange ich außer Gefecht gesetzt sein würde, und die ausstehenden Entscheidungen können nicht warten. Hier in Baldwin ist die Zeit vielleicht ein versteinerter Wald, aber bei Berkley ist sie eine reißende Stromschnelle.
    »Ich weiß, dass ich physisch noch nicht wieder im Büro bin, aber es gibt keinen Grund, weshalb ich nicht von hier aus arbeiten kann«, sage ich zu Richard, während ich Jessica ansehe.
    Augenblick. Ich rede mit Richard, aber ich sehe Jessica an. Mir ist eben bewusst geworden, dass ich Richard gar nicht sehe. Er muss rechts von ihr stehen. Links von mir. Na toll. Vor meinem geistigen Auge stelle ich mir Richard vor. Er ist ungefähr einen Meter fünfundachtzig groß, grau meliertes Haar, braune Augen, schlank, fast hager, blauer Anzug, rote Krawatte, Wingtip-Schuhe. Der schlanke Teil ist neu. Aus einer etwas älteren Datenbank meines Gedächtnisses kann ich einen Richard aus der Zeit vor seiner Scheidung hervorholen – fünfzig Pfund schwerer, rosiges, fleischiges Gesicht, melonengroßer Bauch der Männer mittleren Alters, größerer Anzug, dieselbe rote Krawatte. Ich stelle mir den Inhalt seines Kühlschranks in seinem Junggesellen-Apartment im Ritz vor – ein Sixpack Corona, ein paar Limetten, ein abgelaufener Liter Milch. Ich versuche mir sein hageres Gesicht vorzustellen, während ich mich frage, ob er auch nur halb so schockiert aussieht wie Jessica.
    »Es ist alles unter Kontrolle, Sarah«, sagt Richards Stimme.
    »Was ist mit den alljährlichen Beurteilungen?«
    »Carson kümmert sich darum.«
    »Sogar Asien?«
    »Hat er.«
    »Und Indien?«
    »Ja.«
    »Schön, na ja, sagen Sie ihm, er soll mich anrufen, wenn er irgendwelche Fragen hat oder mich für irgendetwas braucht.«
    »Mache ich.«
    »Ich kann zumindest telefonisch an internen Besprechungen teilnehmen. Jessica, können Sie mir meinen Terminkalender schicken und mich für Konferenzgespräche einplanen?«
    Ein Handy klingelt. Gott, ich vermisse meinen Klingelton.
    »Hallo? Ja«, sagt Richards Stimme. »Gut, sagen Sie ihm, ich

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