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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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ihn schräg zur Seite und lächelt mich an, als wollte sie sagen: »Und jetzt?« Ja, es ist ein Hut, der für eine verrückte Dame gemacht ist.
    »Hast du wirklich nichts anderes bekommen?«
    Sie zuckt zur Antwort entschuldigend mit den Achseln und hält die anderen beiden Modelle hoch – einen braunen Leder-Cowboyhut und eine neonrosa Skimütze.
    »Ich habe mich gehetzt gefühlt. Und hier drinnen ist es immer kalt, daher dachte ich, die Fleecemütze wäre eine gute Idee, und Bob hat ein paar Country-CDs im Wagen, daher dachte ich, dieser Stil könnte dir gefallen.«
    Ich frage mich, was für eine Überlegung hinter der Minnie-Pearl-Variante stecken könnte. Dachte meine Mutter, ich wäre vielleicht so wie die Komikerin? Mir graut zu sehr vor der Antwort, um zu fragen.
    »Ich nehme die rosa Mütze.«
    Wenn man von der grellen Neonfarbe einmal absieht, werde ich mit einer Fleece-Skimütze wenigstens das Gefühl haben, ich selbst zu sein. Bob und ich sind beide begeisterte Skifahrer. Bobs Familie hatte früher eine Eigentumswohnung in North Conway, New Hampshire, und von Dezember bis April verbrachten sie jedes Wochenende an den Skihängen von Attitash und Cranmore. Seine glücklichsten Kindheitserinnerungen daran sind die, wie er mit seinen älteren Brüdern um die Wette einen Berg hinunterrast. Ich hingegen bin am Cape Cod aufgewachsen, wo die größten Hügel Sanddünen sind, und wir haben nie jenseits der Brücke Urlaub gemacht. Das Skifahren habe ich erst entdeckt, als ich in Vermont aufs Middlebury College ging, wo es praktisch ein Pflichtfach ist.
    Mein erster Tag auf Skiern war eine schmerzhafte, eiskalte und erschöpfende Lektion in Sachen Demütigung. Der einzige Grund, weshalb ich den Mut aufbrachte, noch einen weiteren Tag purer Folter zu ertragen, war, dass ich einen Wochenendpass gekauft hatte und wollte, dass sich der finanzielle Aufwand lohnte. Ich erwartete nicht wirklich, mich zu verbessern, geschweige denn Spaß zu haben. Aber an jenem zweiten Tag geschah ein Wunder. Irgendwie wussten meine unbeholfenen Gliedmaßen plötzlich, wie und wann sie sich bewegen mussten, und auf einmal fuhr ich hinunter – auf meinen Skiern und nicht auf dem Allerwertesten. Und seitdem bin ich eine begeisterte Skifahrerin.
    In dem Jahr, nachdem wir unser Haus in Welmont gekauft hatten, haben Bob und ich uns unser Haus in Cortland, Vermont, zugelegt. Die zusätzlichen Hypothekenraten haben uns davon abgehalten, uns ein größeres Haus in Welmont zu leisten, mit einem Schlafzimmer mehr, das wir brauchen werden, falls wir je ein Kindermädchen einstellen wollen, das ganz bei uns lebt. Aber das Opfer hat sich gelohnt. In den Wintermonaten, wenn wir uns ausschließlich vom Haus zum Auto zum Büro und wieder zurück bewegen und die Luft an all diesen Orten überheizt, recycelt und mit Grippeviren verseucht ist, bedeutet das Skifahren an den Wochenenden, zwei ganze Tage lang frische, gesunde Bergluft zu atmen. Und in diesen Wintermonaten, wenn wir uns nur vom Haus zum Auto zur Arbeit und wieder zurück bewegen, sitzen wir ausschließlich. Wir sitzen im Verkehr, sitzen an unseren Schreibtischen, sitzen in Besprechungen und sitzen mit unseren Laptops im Schoß auf den Sofas. Wir sitzen zu jeder wachen Stunde des Tages, bis wir geistig zu erschöpft sind, um noch eine Sekunde länger zu sitzen.
    Wenn wir nach Vermont fahren, schlüpfen wir in unsere Skistiefel, stecken die Stiefel in die Bindungen und fahren Ski. Wir fahren im Slalom zwischen Buckeln hindurch, kratzen spätnachmittags über vereiste Flächen und schießen in einem berauschenden Tempo waghalsige Pisten hinunter. Wir biegen und beugen und strecken uns, bis wir körperlich erschöpft sind. Aber im Gegensatz zu der Erschöpfung, die wir normalerweise spüren, weil wir den ganzen Tag gesessen haben, ist diese Erschöpfung seltsam belebend.
    Und die Kombination aus Bergluft und körperlicher Anstrengung hat etwas Magisches an sich, das die beharrliche Endlosschleife der Stimme in meinem Kopf unterbricht, die normalerweise in einem fort von all den Dingen plappert, die ich erledigen muss. Obwohl sie jetzt völlig belanglos ist, kann ich die drängende Liste, die kurz vor dem Unfall in meinem Kopf ablief, noch immer hören.
    Du musst vor der Mittagszeit Harvard anrufen, du musst mit den Jahresabschluss-Leistungsbeurteilungen anfangen, du musst das BWL-Trainingsprogramm für die naturwissenschaftlichen Kollegen unter Dach und Fach bringen, du musst den

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