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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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steht für mir gefällt nur Jahre alt. Ich versuche zu überlegen, was ich seit dem Unfall sonst noch gelesen habe. Die Speisepläne des Krankenhauses und die CNN-Nachrichtenzeilen. Mit beidem hatte ich kein Problem. Andererseits schienen die Speisekarten auch eher begrenzt zu sein, und bei den Nachrichtenzeilen erscheint immer nur ein Wort auf einmal, angefangen rechts unten. Ich blicke zu Bob auf, und er sieht, dass mir zum ersten Mal bewusst wird, dass ich nicht wirklich lesen kann.
    »Charlie? Oh mein Gott, wo ist Charlie?«, übertrage ich auf einmal meine Panik, als ich mir vorstelle, dass er das Zimmer verlassen hat und allein durch das Krankenhaus läuft.
    »Entspann dich, er ist hier bei uns«, beruhigt mich Bob. »Charlie, komm wieder hierher.«
    Aber Charlie kommt nicht.
    »Mommy, lies!«, bettelt Lucy.
    »Weißt du was, Gänschen, ich bin heute Abend zu müde zum Lesen.«
    Ich höre Wasser im Bad laufen.
    »Kumpel, was machst du denn da? Komm hierher!«, ruft Bob.
    »Ich hole ihn«, verblüfft mich meine Mutter. Ich habe ganz vergessen, dass sie hier ist.
    Charlie läuft mit voller Wucht gegen einen der Stühle, klettert ihn hoch und beginnt, mit den flachen Händen gegen die Fensterscheibe zu schlagen.
    »Hey, hey, das reicht jetzt«, sagt Bob.
    Charlie hält für ein paar Sekunden inne, aber dann vergisst er entweder, dass Bob ihm befohlen hat aufzuhören, oder er kann irgendeinem überwältigenden Drang in seinem Körper, gegen Glas zu klatschen, einfach nicht widerstehen, und er beginnt von Neuem, gegen die Scheibe zu schlagen.
    »Hey«, sagt Bob, lauter als noch vor ein paar Sekunden.
    »Hey, Charlie, weißt du, was das da draußen ist? Das ist ein Gefängnis«, erzähle ich.
    Er hält inne.
    »Wirklich?«
    »Aber ja.«
    »Das ist ein echtes Gefängnis?«
    »Das ist ein echtes Gefängnis.«
    »Sind da echte böse Menschen drin?«
    »Aber ja, es ist voll davon.«
    »Cooool«, sagt er, und ich könnte schwören, den Deckel des Behälters, in dem sich seine Fantasie befindet, deutlich aufspringen zu hören.
    Er drückt wieder die Nase an die Scheibe.
    »Was denn für böse Typen?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Was haben sie gemacht?«
    »Ich bin mir nicht sicher.«
    »Wie wurden sie geschnappt? Wer hat sie geschnappt?«
    »Ich weiß nicht …«
    »Du lebst neben bösen Menschen?«, fragt Lucy, während sie ihr Gesicht an meiner Brust vergräbt und mein Hemd mit ihren Händen umklammert.
    »Ich lebe hier nicht, Gänschen«, erwidere ich.
    »Versuchen sie manchmal zu flüchten? Wer fängt sie denn dann?«, fragt Charlie.
    Seine Stimme ist mit jeder Frage ein bisschen lauter geworden, sodass er jetzt praktisch brüllt. Linus wimmert und nuckelt an seinem Schnuller.
    »Pst«, schelte ich Charlie.
    »Schscht«, beschwichtigt Bob Linus.
    »Wie wär’s, wenn ich mit Charlie und Lucy für ein paar Minuten runter zum Dunkin’ Donuts gehe?«, fragt meine Mutter.
    Das ist genau das, was Charlie zur Schlafenszeit braucht. Zucker.
    »Das wäre toll«, meint Bob.
    »Donuts!«, brüllen Charlie und Lucy, und Linus wimmert wieder.
    »Pst«, sage ich zu allen.
    Charlie und Lucy hüpfen von dem Stuhl und meinem Bett und folgen meiner Mutter aus dem Zimmer wie Ratten dem Rattenfänger von Hameln. Selbst nachdem die Tür zugegangen ist, kann ich noch immer hören, wie Charlie meine Mutter mit aufgeregten Fragen zu Verbrechern bombardiert, während sie den Flur hinunter zu den Aufzügen gehen. Und dann kehrt Stille ein.
    »Wie läuft’s auf der Arbeit?«, frage ich, um das beängstigende Thema meines offensichtlichen Analphabetismus zu vermeiden.
    »Ich überlebe.«
    »Gut. Und den Kindern geht es offenbar gut.«
    »Oh ja. Abby und deine Mutter sorgen dafür, dass sie in ihrer Routine bleiben.«
    »Gut.«
    Bob hält sich in seiner sinkenden Firma über Wasser, die Kinder kommen ohne mich zurecht, und ich erhole mich von einem Schädel-Hirn-Trauma. Das heißt, wir überleben alle. Gut. Aber ich will so viel mehr. Ich brauche so viel mehr. Wie wir alle.
    Du musst gesund werden, du musst hier raus, du musst nach Hause … »Ich will Skifahren gehen.«
    »Okay«, erklärt sich Bob allzu leicht einverstanden, als hätte ich nur gesagt, ich hätte gern ein Glas Wasser oder ein Taschentuch.
    »Diesen Winter«, ergänze ich.
    »Okay.«
    »Aber was, wenn ich nicht kann?«
    »Das wirst du.«
    »Aber was, wenn ich noch immer diesen linksseitigen Neglect habe?«
    »Das wirst du nicht.«
    »Ich weiß nicht. Ich habe nicht das Gefühl,

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