Mehr als nur ein halbes Leben
Landschaftsgärtner anrufen, du musst dem Londoner Büro eine E-Mail schicken, du musst die überfälligen Bibliotheksbücher zurückbringen, du musst die Hose, die Charlie nicht passt, zu Gap zurückbringen, du musst Babymilchpulver für Linus abholen, du musst die Wäsche von der Reinigung abholen, du musst das Abendessen abholen, du musst einen Zahnarzttermin für Lucy wegen ihres Zahns vereinbaren, du musst einen Hautarzttermin für dich wegen dieses Muttermals vereinbaren, du musst zur Bank, du musst die Rechnungen bezahlen, vergiss nicht, Harvard vor der Mittagszeit anzurufen, dem Londoner Büro eine E-Mail zu schicken …
Spätestens bei meiner zweiten oder dritten Abfahrt den Berg hinunter ist diese ständig plappernde Stimme in meinem Kopf verstummt, und eine dankbare Stille füllt den Raum aus, in dem vorher dieses ganze einseitige, herrische Gespräch stattgefunden hat. Selbst wenn die Pisten überfüllt sind mit anderen Skifahrern und selbst wenn Bob und ich reden, während wir mit dem Sessellift hochfahren, ist die Abfahrt auf Skiern hinunter zur Talstation eine wundervolle Erfahrung in konzentrierter Stille. Keine Liste im Kopf, kein Fernsehen, kein Radio, kein Telefon, keine E-Mail. Nur die Stille der Berge. Stille. Ich wünschte, ich könnte sie in eine Flasche abfüllen, mit zurück nach Welmont nehmen und viele Tage lang immer wieder einen kleinen Schluck davon nehmen.
Meine Mutter reicht mir die Mütze. Ich versuche sie aufzusetzen, aber die Öffnung klappt immer wieder zu, und ich kann sie mir nicht über den Kopf ziehen.
»Sie passt nicht.«
»Komm, lass dir von mir helfen«, bietet meine Mutter an.
Sie hält mir die Mütze auf und zieht sie mir über den Kopf. Der Stoff liegt weich und kuschelig auf meiner Haut, und ich muss zugeben, sie fühlt sich gut an.
»Na bitte. Gut siehst du aus«, sagt meine Mutter strahlend, als hätte sie soeben mein größtes Problem gelöst. »Und Lucy wird begeistert sein, dass sie rosa ist.«
Es ist seltsam zu hören, dass meine Mutter meine Kinder kennt. Sie weiß, dass Lucy für Rosa schwärmt. Natürlich, festzustellen, dass Lucy die Farbe Rosa liebt, erfordert ungefähr so viel Zeit und Einfühlungsvermögen wie die Erkenntnis, dass ich kahl bin. Aber trotzdem. Meine Mutter kennt Lucy. Meine Tochter. Ihre Enkelin.
»Ja, bestimmt. Danke, sie ist perfekt.«
Ich berühre die Mütze auf meinem Kopf und schließe die Augen. Ich stelle mir vor, wie ich nach einem ganzen Tag Skifahren mit Bob auf dem Wohnzimmerboden vor einem knisternden Kamin sitze, wo wir unter dicken Fleecedecken auftauen, heißes Chili essen und eisgekühlten Harpoon-Rum trinken. Manchmal spielen wir auch Backgammon oder Karten, und manchmal gehen wir früh ins Bett. Und manchmal lieben wir uns gleich dort auf den Fleecedecken vor dem Kamin. Ich lächle, als ich an das letzte Mal denke. Aber ich verharre nur für eine Sekunde in dieser warmen und verschwommenen Erinnerung, da ich jetzt eifrig damit beschäftigt bin, die Seiten zurückzublättern, um mich zu erinnern, wie lange dieses kleine Vergnügen schon her ist.
Gott, ich glaube, diesen Kamin haben wir seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Kann es wirklich schon so lange her sein? Es scheint, als ob sich jedes Mal, wenn wir eine Fahrt dorthin ins Auge fassen, eine Million kleiner Ausreden verschwört, um uns davon abzuhalten, den Wagen zu packen und nach Norden zu fahren – Arbeit, Reisen, Schwangerschaft, im Winter Charlies Karatekurs samstags, im Frühjahr T-Ball-Spiele, verschiedene Projekte rund ums Haus, Lucys Ohrenentzündungen, wir haben zu viel zu tun, sind zu erschöpft. Und jetzt das hier.
Ich beiße die Zähne zusammen und nehme mir fest vor, in diesem Winter nach einem langen Tag Skifahren mit Bob vor diesem Kamin zu sitzen, zu essen, zu trinken und glücklich zu sein. Keine Ausreden. Das Geplapper in meinem Kopf beginnt eine neue Liste zu erstellen. Du musst gesund werden, du musst hier raus, du musst nach Hause, du musst wieder zur Arbeit, du musst nach Vermont fahren, du musst gesund werden, du musst hier raus, du musst nach Hause, du musst wieder zur Arbeit …
Während ich von diesem inneren Auftrag fast hypnotisiert werde, werde ich mir noch einer anderen Stimme in meinem Kopf immer deutlicher bewusst. Diese Stimme ist ein Flüstern, aufrichtig und verängstigt. Ich erkenne sie. Es ist meine eigene Stimme, die immer wieder die bohrende Frage wiederholt, die zu beantworten ich mich weigere, seit ich mir Ellen
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