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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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sollten. Ich habe noch nie etwas so Lächerliches gehört. Dieser sogenannte Experte hat ganz offensichtlich kein fragelustiges Kind wie Charlie. Wenn ich es mir recht überlege, hat dieser »Experte« vermutlich gar keine Kinder. Es gibt Tage, an denen ich schon vor dem Frühstück ein Dutzend Mal ausweichen, flunkern und glattweg lügen muss. Was sind Massenvernichtungswaffen? Worüber streitest du mit Dad? Woher kommen die Babys? Was ist das [er hält einen Tampon in der Hand]? Die Wahrheit ist oft zu erschreckend, zu kompliziert, zu … erwachsen für Kinder.
    Und Lügen sind oft die beste Erziehungsmethode, die mir zur Verfügung steht. Ich habe Augen im Hinterkopf. Deine Miene wird so festfrieren. Es wird nicht wehtun. Spider-Man liebt Brokkoli. Hier, das [eine Sprühflasche mit Wasser] wird die Monster in deinem Schrank töten. In null Komma nichts.
    Und dann gibt es da diese Notlügen, die das unterstützen und schützen, was für Kinder wundervoll und zauberhaft ist. Der Weihnachtsmann, der Osterhase, die Zahnfee, Disney-Prinzessinnen, Harry Potter. Ich will die Eltern gar nicht kennen, die einem Siebenjährigen sagen, dass es das alles nicht gibt.
    Die Wahrheit ist, es gibt keinen Weihnachtsmann, es gibt keine Zauberer, Eltern bezahlen Bares für Babyzähne, und Feenstaub ist im Geschäft gekaufter Glitzer. Es gibt Leute auf dieser Welt, die Amerikaner hassen und in diesem Augenblick Pläne aushecken, um uns alle zu töten, und ich stecke mir diesen Tampon in die Vagina, damit er das Blut aufsaugt, wenn ich meine Tage habe. Die kalte, harte Wahrheit muss für Kinder in eine warme, weiche, seidige Decke aus Lügen verpackt werden. Oder – wie in diesem Fall – in eine leuchtend rosa Fleece-Skimütze.
    »Wirklich, Charlie, es geht mir gut.«
    »Siehst du?« Lucy hält ihre Zehen in die Luft wie eine Ballerina. Ihre Zehennägel sind in einem rebellischen Metallicblau lackiert.
    »Sie sind wunderschön«, lüge ich. »Wo ist Linus?«
    »Er ist neben mir auf dem Boden«, erklärt Bob.
    »Kannst du ihn hochheben, damit ich ihn sehen kann?«
    Ich warte, und nichts geschieht.
    »Bob, kannst du ihn hochheben?«
    »Ich habe ihn hochgehoben«, sagt er leise.
    Seine Miene verrät meinen Neglect.
    »Lucy-Gänschen, kannst du kurz herunterhüpfen?«, frage ich.
    Sie krabbelt ans Fußende des Betts, was reicht, und Bob stellt den Auto-Schalensitz neben mir aufs Bett. Linus schläft tief und fest, atmet in langen, tiefen Zügen. Sein Schnuller ist so befestigt, dass das Mundstück genau über dem Gaumen seines offenen Mundes baumelt, damit er jederzeit an ihm nuckeln kann. Gott sei Dank hat er begriffen, wie das geht.
    Ich liebe es, wie seine Wangen – die tagsüber wie zwei volle, reife, köstliche Pfirsiche aussehen und unbedingt gekniffen werden wollen – weit über seinen Kiefer nach unten sacken, wenn er schläft. Ich liebe seine zu Fäusten geballten kleinen Hände, die Grübchen, die er anstelle von Fingerknöcheln hat, die Falten seiner pummeligen Handgelenke. Ich liebe das Geräusch seines Atems. Gott, das könnte ich mir die ganze Nacht ansehen.
    »Ich will ihn halten«, sage ich.
    »Du willst ihn doch nicht aufwecken«, warnt mich Bob.
    »Ich weiß, du hast recht. Ich vermisse es nur so, ihn zu halten«, erkläre ich.
    »Mommy, ich will bei dir sitzen«, sagt Lucy.
    »Okay«, antworte ich.
    Bob nimmt Linus fort, und Lucy nimmt ihren Platz auf meinem Schoß wieder ein.
    »Liest du mir vor?«, fragt sie.
    »Na klar, Schatz. Ich vermisse es, dir vor dem Einschlafen vorzulesen.«
    Bob hat Gutenachtbücher mitgebracht und reicht mir einen Band von Junie B. Jones , Lucys neueste Lieblingsreihe.
    Ich schlage die erste Seite des ersten Kapitels auf.
    »›Erstes Kapitel, Verwirrendes Zeug.‹«
    Hm. Der Titel könnte nicht treffender sein. Diese Seite ergibt überhaupt keinen Sinn. B steht für mir gefällt nur Jahre alt. Wenn man nach im letzten Sommer Mutter fuhr mit mir und ich erwachsen bin mich angemeldet ich ging. Ich taste mich über die Seite wie ein Felskletterer, der über einem Abgrund hängt, suche nach dem nächsten Halt für die Füße, ohne einen zu finden.
    »Komm schon, Mommy. ›Mein Name ist Junie B. Jones. Das B steht für Beatrice, aber Beatrice gefällt mir nicht. Mir gefällt nur B, und das ist alles.‹«
    Die Junie B. Jones -Bücher fangen alle gleich an. Lucy und ich können sie auswendig. Ich weiß die Worte, die auf dieser Seite stehen sollten, aber ich sehe sie nicht. Ich sehe B

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