Mehr als nur ein halbes Leben
wie der Tag läuft. Und Martha wird mir sagen, dass ich mich auf der linken Seite überhaupt nicht geschminkt habe. Der linken Hälfte meiner Lippen wird der Lippenstift fehlen, meinem linken Auge die Wimperntusche, der Eyeliner und der Lidschatten, meiner linken Wange das Rouge.
Und dann werde ich mein Gesicht im Spiegel betrachten und mich wirklich bemühen zu sehen, was sie sehen, und ich werde mich vollständig geschminkt sehen, durchaus gut aussehend, wenn man von der Kresseigel-Frisur einmal absieht. Es ist ein unheimlicher und manchmal etwas peinlicher Moment, wenn ich begreife, was sie sehen, und es mit dem vergleiche, was ich sehe. Und was nicht. Mir fehlt ein ganzer Kontinent an Erfahrung, und es ist mir nicht einmal bewusst. Mir ist nicht bewusst, dass ich die linke Hälfte meines Gesichts nicht bemerke, die linke Hälfte von Martha, die linke Hälfte jener Seite in Junie B. Jones . Für mich fehlt nichts.
Der erste Schritt meiner Genesung besteht darin, mir meines fehlenden Bewusstseins bewusst zu werden, mir ständig und immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass mein Gehirn denkt, es würde auf alles achten, während es tatsächlich nur auf die rechte Hälfte von allem und nichts auf der linken Seite achtet. Ich vergesse offenbar jede Sekunde des Tages, dass das so ist. Solange sich der Teil meines Gehirns, der normalerweise für dieses Bewusstsein zuständig ist, abgemeldet hat, muss ich einen anderen Teil meines Gehirns als meinen eigenen Babysitter anheuern, der jeden meiner Schritte überwacht und sich jedes Mal zu Wort meldet, wenn ich eine Erinnerung brauche.
Hey, Sarah, du glaubst, du siehst dein ganzes Gesicht, aber tatsächlich achtest du nur auf die rechte Seite. Da ist noch eine andere Hälfte. Sie heißt die linke Seite. Ganz ehrlich.
Hey, Sarah, diese Seite in dem Buch, die du da ansiehst? Du liest nur die Wörter auf der rechten Hälfte der Seite. Und manchmal sogar nur die rechte Hälfte der Wörter. Wirklich. Da ist auch noch eine linke Hälfte. Deshalb ergibt das alles für dich keinen Sinn. Vertrau mir .
Aber bis jetzt ist mein innerer Babysitter alles andere als zuverlässig und die meiste Zeit nicht einmal zur Arbeit erschienen. Sie ist eine flatterhafte Jugendliche, die nur ihren Freund im Kopf hat. Vielleicht muss ich sie feuern und mit jemand Neuem noch einmal von vorn anfangen.
Der zweite Schritt, sobald ich mir meines fehlenden Bewusstseins bewusst geworden bin, besteht darin, dieses Wissen um die linke Seite wiederzuerlangen, meine Konzentration und Fantasie über das auszudehnen, was mir wie der Rand der Erde erscheint, und die andere Hälfte zu finden. Was früher automatisch und völlig hinter den Kulissen ablief – die Welt als nahtloses Ganzes zu sehen –, ist jetzt ein schmerzhafter und bewusster Prozess, bei dem ich versuchen muss, ein abgetrenntes Links wieder in mein Bewusstsein zu holen. Sieh nach links. Such links. Geh nach links. Es klingt so einfach, aber wie soll ich einen Ort sehen, suchen oder dorthin gehen, wenn er für meinen Verstand nicht existiert?
Bob beschwört mich immer wieder, dass ich alles schaffen kann, was ich mir vornehme. Aber er spricht von meinem alten Verstand. Mein neuer Verstand ist beeinträchtigt, und er schert sich kein bisschen um die linke Seite oder die Erfolgsgeschichte meines alten Verstandes.
Haltung. Faust. Kampf. Ich schaffe das.
Das Seltsamste daran, jeden Tag vor diesem großen Spiegel zu sitzen, ist es, mich selbst in einem Rollstuhl zu sehen. Behindert. Ich fühle mich nicht behindert, und doch sitze ich darin. Aber ich bin nicht wirklich gelähmt, Gott sei Dank. Mein linkes Bein kann sich bewegen. Die Muskeln, Sehnen, Bänder und Nerven in meinem Bein sind alle miteinander verbunden, startklar und bereit. Sie warten auf eine entschiedene Anweisung – wie einer von Charlies Wii-Avatar, der darauf wartet, dass er auf den A-Knopf drückt. Na los, Sarah, drück auf den A-Knopf .
Martha betritt den Fitnessraum und stellt sich hinter mich.
»Morgen, Sarah«, sagt sie zu meinem Spiegelbild.
»Morgen.«
»Sind Sie heute allein hierhergekommen?«
Nicht schon wieder. So beginnen Martha und ich jeden Morgen zusammen. Ich wusste, dass sie mich das fragen würde, und ich weiß, dass sie meine Antwort kennt, aber ich spiele trotzdem mit. Es ist unsere kleine Show.
»Nein«, sage ich, als würde ich als Zeugin vor Gericht aussagen.
»Wie sind Sie denn hierhergekommen?«
Ich deute auf das schuldbewusste Spiegelbild
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