Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
Dezemberwoche, vier Wochen seit dem Unfall. Ich bin nicht wieder zu Hause. Ich gehe nicht wieder zur Arbeit. Ich habe den wichtigsten Teil der Rekrutierungsphase bei Berkley und Thanksgiving verpasst. Na ja, Bob und meine Mutter haben die Kinder und ein ganzes Thanksgiving-Menü hierher – nach Baldwin – gebracht, und wir haben alle in der Cafeteria zu Abend gegessen, sodass ich Thanksgiving streng genommen nicht verpasst habe. Das selbst gekochte Essen war köstlich (bestimmt weitaus köstlicher als der gräulich aussehende Truthahn mit Kartoffelbrei und Sauce, den ich auf den Plastiktabletts einiger anderer Patienten gesehen habe), und wir waren alle zusammen, aber es kam mir nicht wirklich wie Thanksgiving vor. Es kam mir traurig und seltsam vor.
    Ich sitze in einem Zimmer, das man hier den Fitnessraum nennt. Ich muss jedes Mal leise kichern, wenn ich hierherkomme und denke: Das braucht es also, um mich in ein Fitnessstudio zu kriegen. Aber es ist kein Fitnessstudio im herkömmlichen Sinne – nicht wie das in Welmont, in das ich nie gehe. Hier gibt es keine Laufbänder, keine freien Gewichte oder Crosstrainer. Es gibt eine nautilusartige Kraftmaschine, größer als Bob, mit Flaschenzügen und einem Gurtwerk, das von einem riesigen, ausgestreckten Stahlarm der Maschine herunterhängt – so sieht es zumindest aus. Ich will nichts damit zu tun haben, was auch immer in diesem Ding vor sich gehen mag.
    Neben dieser mittelalterlich anmutenden Vorrichtung gibt es außerdem noch zwei lange Tische an einer der Wände. Ein ordentlicher Stapel mit Papier-und-Bleistift-Tests liegt auf einem davon, eine bunte Sammlung von Rätseln im Stil des Rubik-Zauberwürfels und Spiele auf dem anderen. Es gibt ein paar Reebok-Stepper und blaue Gymnastikbälle, wie man sie – nehme ich an – auch in einem echten Fitnessstudio finden könnte, einen Barren, um das unterstützte Laufen zu üben, und einen großen Spiegel an einer der Wände. Das ist so ziemlich alles.
    An der Wand über dem Rätseltisch hängt ein Poster, das mich inzwischen fasziniert. Es ist ein Schwarz-Weiß-Foto einer Faust unter dem Wort »Haltung«, das in fetten roten Buchstaben geschrieben ist. Die Botschaft und das Bild scheinen nicht recht zusammenzupassen, aber je öfter ich dieses Poster betrachte und darüber nachdenke, desto mehr inspiriert mich diese Kombination. Die Faust steht für Kraft, Stärke, Entschlossenheit, Kampf. Und Haltung. Eine positive Haltung. Ich werde bei meinem Kampf darum, mein Leben zurückzubekommen, eine positive Haltung einnehmen. Ich balle die Faust solidarisch mit der Faust auf dem Bild. Ich bin stark. Ich bin eine Kämpferin. Ich schaffe das.
    Ich sitze genau vor der Wand mit dem großen Spiegel. Ich verbringe viel Zeit damit, vor diesem Spiegel zu sitzen und nach meiner linken Seite zu suchen. Hin und wieder schaffe ich es, kleine Teile von mir zu finden. Für eine Sekunde mein linkes Auge. Die Schnürsenkel meines linken Turnschuhs. Meine linke Hand. Es ist eine langwierige und zermürbende Anstrengung für eine solch flüchtige und winzige Belohnung. Ich habe festgestellt, dass meine linke Hand leichter ausfindig zu machen ist als jeder andere meiner linken Körperteile, weil ich dabei nach meinem Diamantring suchen kann. Früher habe ich meinen Ring als wunderschönes Symbol meiner Verbundenheit mit Bob angesehen. Jetzt ist er ein wunderschönes zweikarätiges, funkelndes Ziel. Ich habe Bob gesagt, dass mehr Schmuck meine Genesung vermutlich fördern würde – ein Diamant-Tennisarmband für mein linkes Handgelenk, eine Diamanttraube, die von meinem linken Ohr baumelt, ein Diamant-Fußkettchen, ein Diamant-Zehenring. Bob hat gelacht, aber ich meinte es nur halb im Scherz.
    Martha ist spät dran, meine Mutter ist auf der Toilette, und hier drinnen gibt es außer meinem Spiegelbild eigentlich nichts mehr anzusehen, daher fange ich schon einmal an, mich zu mustern. Ich bin kein schöner Anblick. In diesem Raum ist es immer heiß, daher habe ich meine Fleecemütze nicht aufgesetzt. Mein Haar ist schon ein bisschen nachgewachsen; es ist jetzt gerade so lang, dass es in alle Richtungen absteht. Ich sehe aus wie ein Kresseigel. Ich bin nicht geschminkt. Noch nicht. Das ist etwas, was ich hier vermutlich heute tun werde. Martha wird mich auffordern, mich zu schminken, und ich werde es tun. Dann wird meine Mutter – die sich meistens irgendwo im Hintergrund herumdrückt – entweder kichern oder aufstöhnen, je nachdem,

Weitere Kostenlose Bücher