Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
angesehen habe, seit ich Richard und Jessica gesehen habe.
    Was, wenn ich nicht gesund werde?
    Ich bitte meine Mutter, mir von ihrer Fahrt zur Mall zu erzählen, in der Hoffnung, dass ihr Geplapper die Stimme übertönen wird. Sie holt fröhlich aus, die Geschichte ihres Ausflugs zu erzählen.
    Was, wenn ich nicht gesund werde?
    Für ein Flüstern ist die Frage erstaunlich schwer zu ignorieren.
    »Mommy«, brüllt Lucy, die vor allen anderen ins Zimmer stürmt.
    »Komm herüber auf diese Seite«, sagt meine Mutter.
    »Komm zu mir hoch«, sage ich und klopfe neben mir aufs Bett.
    Lucy klettert über das Schutzgitter und auf meinen Schoß. Sie trägt ihre Winterjacke über ihrem Kleine-Meerjungfrau-Nachthemd, ihre Turnschuhe mit den Absätzen, die bei jedem Schritt aufleuchten, und ihre rosa Fleecemütze. Ich umarme sie innig, und sie drückt mich fest, ihre kleinen Hände um meinen Nacken geschlungen, ihr Gesicht an meine Brust gedrückt. Ich atme ein glückseliges »Mmm« aus, denselben Laut, den ich von mir gebe, wenn ich frisch gebackenes Brot rieche oder eben ein sündhaftes Stück Schokolade gegessen habe. So köstlich ist ihre Umarmung. Dann lehnt sie sich zurück, nur ein paar Zentimeter von meinem Gesicht weg, und mustert mich. Ihre Augen leuchten auf.
    »Wir passen zusammen, Mommy!«, stellt sie fest, entzückt von meiner rosa Skimütze, genau wie es meine Mutter vorausgesagt hat.
    »Wir sind ja so chic«, sage ich.
    »Hey, Schatz«, begrüßt mich Bob.
    Die anderen kommen nacheinander zur Tür herein. Alle tragen Mützen – Bob eine Red-Sox-Kappe, Charlie eine marineblaue Bombermütze, Linus – der in seinem Auto-Schalensitz schläft – ein elfenbeinfarbenes Strickmützchen, und natürlich meine Mutter, die verrückte Hutmacherin. Eine wirklich brillante Idee. Jetzt werden die Kinder kaum auf meinen Kopf achten. Ich schenke Bob ein dankbares Lächeln.
    »Wo sind denn deine ganzen Haare?«, fragt Lucy, besorgt und verwirrt.
    So viel zu dieser Theorie.
    »Ich musste mir die Haare ganz kurz schneiden lassen«, antworte ich.
    »Warum denn?«
    »Weil sie zu lang waren.«
    »Oh. Mir haben sie zu lang gefallen.«
    »Mir auch. Sie werden ja wieder nachwachsen«, versichere ich ihr.
    Ich frage mich, wann die linke Seite wieder »nachwachsen« wird, und wünschte, ich hätte ähnlich viel Vertrauen in ihre Rückkehr.
    »Lebst du jetzt hier?«, fragt sie, noch immer verwirrt und besorgt.
    »Nein, Schatz, ich lebe bei euch allen zu Hause. Ich bleibe nur ein bisschen hier, für ein spezielles Programm, um ein paar neue Dinge zu lernen. Es ist wie Schule.«
    »Weil du dir im Auto den Kopf angestoßen hast?«
    Ich sehe zu Bob hoch. Ich weiß nicht, wie viel er ihnen erzählt hat. Er nickt.
    »Ja. Hey, wer hat dir denn die Nägel so hübsch lackiert?«
    »Abby«, sagt sie und bewundert ihre rosa Finger. »Die Zehen hat sie mir auch gemacht. Willst du mal sehen?«
    »Na klar.«
    Ich schaue zu Charlie hinüber – während Lucy ihre Schuhe aufbindet – und mache mich auf das etwas kompliziertere Kreuzverhör gefasst, das jetzt wohl kommen wird. Normalerweise würde er die klaffenden Lücken in meinen Politiker-Antworten auf Lucys schwache Fragen sofort durchschauen und sich in das Verhör stürzen. Er würde meine lahme Haarschnitt-Geschichte in der Luft zerreißen wie ein hungriger Pitbull ein saftiges Steak. Aber stattdessen steht er einfach nur vor Bob und starrt auf den Boden. Er sieht mich nicht an.
    »Hey, Charlie«, fange ich an.
    »Hi, Mom«, sagt er, die Arme verschränkt, den Blick noch immer gesenkt.
    »Wie läuft’s in der Schule?«
    »Gut.«
    »Was gibt’s Neues?«
    »Nichts.«
    »Komm hierher.« Ich strecke einladend einen Arm aus.
    Er schlurft zögernd ein paar Schritte vor und bleibt in einem Abstand zu mir stehen, den man kaum als »hier« bezeichnen kann. Ich ziehe ihn an mich, und da er den Blick noch immer gesenkt hält, küsse ich ihn auf seine blaue Mütze.
    »Charlie, sieh mich an.«
    Er tut, was ich ihm sage. Seine Augen sind rund und unschuldig, besorgt und trotzig, umrahmt von diesen dichten schwarzen Wimpern. Es ist so unfair, dass Lucy nicht seine Wimpern bekommen hat.
    »Schatz, Mommy geht es gut. Keine Sorge, okay?«
    Er blinzelt, aber der besorgte Trotz weicht kein bisschen aus seinem Blick. Ich verkaufe ihm eine Lüge, doch er kauft sie mir nicht ab. Irgendein Kinderexperte hat einmal gesagt – oder ich habe es irgendwo gelesen –, dass Eltern ihre Kinder niemals belügen

Weitere Kostenlose Bücher