Mehr als nur ein halbes Leben
meiner Mutter, die jetzt hinter Martha steht.
»Haben Sie es wenigstens versucht?«
»Ich wüsste nicht, wieso ich meine Zeit damit verschwenden sollte zu lernen, wie man einen Rollstuhl benutzt. Ich werde zu Fuß von hier weggehen.«
Haltung. Faust. Kampf.
»Wie oft müssen wir das denn noch durchkauen? Sie sollten jede Gelegenheit wahrnehmen, Ihre linke Seite zu benutzen.«
Bevor ich zum Gegenschlag ausholen kann, packt sie meinen Rollstuhl hinten, schwenkt mich herum und rollt mich aus dem Fitnessraum. Ich höre die Schuhe meiner Mutter hinter uns schnell und abgehackt über den Boden klappern. Wir gehen den langen Korridor hinunter vorbei an meinem Zimmer zu den Aufzügen und halten dort an. Martha schwenkt mich herum.
»Okay, Sarah, jetzt wollen wir mal sehen, wie Sie zum Fitnessraum kommen.«
»Ich will dieses Ding nicht benutzen.«
»Dann werden Sie Ihre heutige Sitzung eben hier auf dem Korridor verbringen.«
»Gut, mir gefällt es hier.«
Martha starrt auf mich herunter, die Hände in ihre breiten Hüften gestemmt, mit fest zugekniffenem Mund. Ich knirsche mit den Backenzähnen, um ihr nicht die Zunge herauszustrecken. Diese Frau bringt nicht gerade meine beste Seite zum Vorschein.
»Helen, geben Sie mir Bescheid, wenn sie es sich anders überlegt«, sagt sie und wendet sich zum Gehen.
»Warten Sie!«, rufe ich ihr nach. »Warum kann ich nicht üben, meine linke Seite zu benutzen, indem ich versuche, im Fitnessraum zu laufen?«
»Das werden Sie schon noch. Aber zuerst machen wir das hier.« Sie hält einen Augenblick inne, um zu sehen, ob sie weiter den Korridor hinuntergehen soll.
Haltung. Faust. Kampf. Na schön.
»Na schön.«
Martha kommt zu mir zurück und wippt dabei selbstgefällig bei jedem Schritt in ihren marineblauen Crocs. Sie legt meine linke Hand auf das Rad und klopft darauf.
»Spüren Sie Ihre Hand?«, fragt sie.
»Ja.«
»Spüren Sie das Rad?«
»Ja.«
»Okay, los geht’s. Den Flur hinunter. Halten Sie sich an die Linie.«
Eine gerade gelbe Linie verläuft auf dem Boden über die Länge des Korridors, vermutlich als Orientierungshilfe für behinderte Patienten wie mich. Ich rolle den Rollstuhl. Ich rolle den Rollstuhl. Ich rolle den Rollstuhl. Ich krache gegen die Wand. Und obwohl genau das jedes Mal passiert, bin ich doch verblüfft von dem Aufprall. Mir war gar nicht aufgefallen, dass ich von der gelben Linie abgewichen war, und ich habe die Wand gar nicht gesehen, bevor ich gegen sie geprallt bin.
»Sie müssen Ihre linke Hand benutzen, sonst können Sie nicht geradeaus fahren«, sagt Martha.
»Ich weiß«, erwidere ich in einem Ton, der vor jugendlicher Gereiztheit nur so trieft.
Natürlich weiß ich das. Ich verstehe das Grundprinzip und die Physik des Rollstuhlfahrens. Das ist nicht das Problem. Das Problem ist, dass ich meine Aufmerksamkeit nicht konstant auf meine linke Hand oder das linke Rad oder die linke Wand richten kann, die bedrohlich immer näher rückt. Anfangs habe ich noch alles im Griff. Linke Hand auf linkem Rad. Gut so. Aber sobald ich anfange, mit der rechten Hand das rechte Rad zu drehen, verschwindet alles auf der linken Seite. Puff. Einfach so. Und ohne irgendwelche Rauch-Spezialeffekte, Abschiedsszenen oder Fanfaren. Während ich den Rollstuhl mit der rechten Hand rolle, ist mir nicht nur nicht bewusst, dass ich die linke Hand nicht mehr benutze, mir ist nicht einmal mehr bewusst, dass ich eine linke Hand habe. Dieses Problem scheint mir unlösbar zu sein, und es ist eine Hausaufgabe, mit der ich gar nicht erst anfangen will. Ich will nicht lernen, wie man einen Rollstuhl benutzt.
Martha schiebt mich von der Wand zurück und stellt mich wieder richtig hin.
»Versuchen wir’s noch einmal«, sagt sie.
Sie legt meine linke Hand auf das Rad und klopft darauf.
»Spüren Sie Ihre Hand auf dem Rad?«
»Ja.«
»Okay, spüren Sie sie weiterhin, denken Sie an Ihre linke Hand, und halten Sie sich an die Linie.«
Ich schließe die Augen und stelle mir meine linke Hand mit dem funkelnden Diamantring auf dem Gummireifen vor. Dann überlege ich, was ich ihr sagen will. Liebe linke Hand, bitte dreh das Rad dieses Rollstuhls vorwärts . Aber anstatt meiner juwelengeschmückten Hand nur mit Worten zu sagen, was sie tun soll, stelle ich mir vor, wie mein Verstand diese höfliche Bitte in warme, flüssige Energie verwandelt und in die Nervenbahnen gießt, die meine linke Hand versorgen. Ich stelle mir vor zu spüren, wie diese herrlich warme
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