Mehr als nur ein halbes Leben
Flüssigkeit aus meinem Kopf strömt, meinen Hals hinunter, in meine linke Schulter, über meinen Arm und in jede meiner Fingerspitzen.
»Gut, Sarah, weiter so«, lobt Martha.
Mein Flüssigkeits-Mojo funktioniert offenbar. Ich rühre noch eine Portion zusammen und schicke sie meinen Arm hinunter.
»Du kannst es!«, sagt meine Mutter, offenbar überrascht und begeistert zugleich.
Ich schlage die Augen auf. Ich sitze nicht mehr neben den Aufzügen, und ich bin nicht gegen die Wand gekracht. Ich bin wirklich ein Stück vorangekommen. Meine Mutter wippt ein paarmal in den Knien auf und ab und klatscht in die Hände. Wenn ihr jemand ein Paar Pompons in die Hand drücken würde, würde sie vermutlich anfangen, wie ein Cheerleader zu jubeln.
»Gut so«, lobt Martha. »Machen Sie es gleich noch mal.«
Ich sehe die gelbe Linie hinunter. Ich habe noch immer einen langen Weg vor mir. Nach der letzten Klatschbewegung presst meine Mutter die Hände gegeneinander, sodass sie jetzt aussieht, als würde sie beten. Okay, Sarah, mach es gleich noch mal . Ich gieße mir noch einen Flüssigkeits-Cocktail in die Hand.
Aber offenbar habe ich mich nicht an dasselbe Rezept gehalten wie beim letzten Mal, denn irgendetwas geht jetzt schief. Ich bin von der gelben Linie abgewichen, und ich spüre Schmerz, aber ich kann nicht genau sagen, was mir wehtut. Ich sehe zu meiner Mutter hoch, und ihre verzerrte Grimasse verrät mir, dass es – was auch immer es sein mag – wehtun muss. Sehr. Dann begreife ich, dass es meine linke Hand sein muss.
»Stopp. Stopp. Ihre Hand hat sich in dem Rad verheddert. Augenblick«, befiehlt Martha.
Martha geht in die Hocke und schiebt meinen Rollstuhl langsam zurück, während sie meine linke Hand aus dem Inneren des Rads befreit.
»Ich hole einen Eisbeutel. Helen, können Sie sie zurück zum Fitnessraum bringen, und wir treffen uns dort? Wir werden als Nächstes ein bisschen unterstütztes Laufen versuchen.«
»Natürlich«, sagt meine Mutter.
Dann rollt sie mich den Flur hinunter zum Fitnessraum und stellt mich vor dem großen Spiegel ab, wo ich angefangen habe. Meine Finger tun höllisch weh, aber ich lächele. Ich habe meine linke Hand benutzt, und jetzt muss ich den Rollstuhl nicht mehr verwenden. Wenn ich laufen könnte, würde in jedem meiner Schritte ein selbstgefälliges Wippen mitschwingen.
FÜNFZEHNTES KAPITEL
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Ich sitze in einem Rollstuhl (ich weigere mich, ihn meinen Rollstuhl zu nennen) vor einem Ganzkörperspiegel in meinem Zimmer und versuche, meine Hose anzuziehen. Das versuche ich schon seit einer ganzen Weile. Ich kann nicht genau sagen, wie lange schon, da ich meine Armbanduhr nicht anhabe. Dieser Teil des täglichen Ironman-Trainings, das »Sich anziehen« heißt, wird kommen, nachdem ich mich in mein Hemd gekämpft habe. Falls ich die Kraft dafür habe.
Aus irgendeinem Grund fällt es mir unendlich viel leichter, irgendetwas unterhalb der Taille anzuziehen als oberhalb davon – und selbst das ist alles andere als leicht. Inzwischen kann ich mir ganz allein Socken an beide Füße ziehen. Meine linken Zehennägel sind in dem grellsten Schlampen-Rot angemalt, das meine Mutter in der Drogerie finden konnte, und meine rechten Zehennägel bloß klar lackiert. Mir ist bewusst, dass das seltsam aussieht, aber es ist schließlich nicht so, dass ich in absehbarer Zeit offene Schuhe tragen werde. Der rote Nagellack ist eine Art große rote Flagge – wie mein Diamantring –, die mir hilft, meinen linken Fuß zu sehen. Und wenn ich ihn gefunden habe, kann ich mit der rechten Hand meine Socke über ihn ziehen, zerren und zupfen.
Außerdem trage ich Strümpfe in zwei verschiedenen Farben. Dieselbe Logik wie bei dem Schlampen-Nagellack. Meine Therapeuten versuchen, die linke Seite von allem – einschließlich meiner eigenen linken Seite – so interessant und auffällig wie möglich zu gestalten. Daher ist mein rechter Strumpf im Allgemeinen ein normales weißes Söckchen und der linke in allen Regenbogenfarben gestreift, getupft oder kariert. Heute ist er grün und mit Rentieren verziert. Ich wünschte, sie wären alle Rudolphs und ihre Nasen würden aufleuchten.
Ich bin mit dem rechten Fuß bereits durch das rechte Hosenbein und habe mich vorgebeugt – die Brust auf meinen nackten Oberschenkeln abgestützt – und halte mit der rechten Hand den offenen Hosenbund meiner Jeans umklammert, bereit, mich damit auf meinen linken Fuß zu stürzen, sollte ich ihn sehen. Ich komme
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