Mehr als nur ein halbes Leben
vielleicht werden sogar die meisten Leute nicht wieder gesund, aber ein paar werden es. Du schaffst das. Denk dran: Haltung. Kampf. Du kannst gesund werden. Es ist immer noch möglich. Gib nicht auf. Atme. Konzentrier dich. Klär deine Gedanken .
Du hast recht. Atme. Konzentrier dich. Atme. Wem will ich hier eigentlich etwas vormachen? Ich bin so weit davon entfernt, gesund zu werden. Gesund ist ein kleines Dorf, irgendwo tief im Amazonas-Regenwald versteckt, auf keiner Karte verzeichnet. Viel Glück auf dem Weg dorthin. Viel Glück auf dem Weg überhaupt irgendwohin. Ich kann noch nicht einmal laufen. Linus kann es besser als ich. Bob sagt, dass er bereits um den Couchtisch kurvt. Und ich schleppe mich noch immer am Barren vorwärts, während mir Martha jeden einzelnen meiner gequälten Schritte befiehlt. Linus wird laufen können, bevor ich es wieder kann, und ich werde nicht zu Hause sein, um seine ersten Schritte zu sehen. Nicht dass ich da gewesen wäre, um Charlies oder Lucys erste Schritte zu sehen. Ich war auf der Arbeit. Aber trotzdem. Ich will nach Hause.
Hör auf zu denken! Du sollst meditieren. Du fährst jetzt nicht nach Hause. Du hast nirgends zu sein und nichts zu tun. Sei einfach hier. Atme. Denk an nichts. Kahle Wand. Stell dir eine kahle Wand vor. Atme. Hast du nicht immer davon geträumt, eine solche Auszeit zu nehmen, um zu entspannen und zu verschnaufen?
Ja, aber ich habe nicht davon geträumt, eine Gehirnverletzung zu haben, um die Gelegenheit zu bekommen, mitten am Tag dazusitzen und an gar nichts zu denken. Das ist doch ein etwas hoher Preis für ein bisschen Erholung und Entspannung, meinst du nicht auch? Ich hätte einfach für ein Wochenende in ein Wellnesscenter fahren können.
Sarah, du schweifst schon wieder ab. Du bist mit deinen Gedanken überall, nur nicht hier .
Fühlt es sich so an, Charlie zu sein? Ich möchte es wetten. Bob ist gestern ohne mich mit ihm beim Arzt gewesen. Es war hart für mich, nicht dabei zu sein. Ich kann nicht glauben, dass er auf eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung getestet wird. Ich bete, dass er keine hat. Aber dann wiederum wünschte ich fast, er hätte eine. Das würde wenigstens erklären, warum er solche Probleme hat. Und wenn er eine hat, dann können wir wenigstens etwas anderes für ihn tun, als ihn ständig nur anzuschreien. Ja, aber dieses andere wäre, ihm Medikamente zu geben. Wir werden Charlie mit Pillen vollpumpen, damit er aufpassen kann. Ich will gar nicht daran denken.
Hallo? Denk nicht daran! Du sollst an gar nichts denken. Hör auf zu denken.
Entschuldige.
Du musst dich nicht entschuldigen. Sei still. Schalte ab. Stell dir vor, du drückst auf den Ausschaltknopf .
Du hast recht. Hör auf zu denken. Atme. Ein. Aus. Gut. Ein. Aus. Gut, ich tue es. Weiter so.
Okay, aber hör auf, dir dafür wie ein Cheerleader zuzujubeln. Du bist nicht deine Mutter .
Gott sei Dank nicht. Wie lange wird sie eigentlich noch hier herumhängen? Warum ist sie überhaupt hier? Hat sie kein Leben am Cape, zu dem sie zurückkehren kann? Vermutlich nicht. Sie hat sich aus ihrem Leben verabschiedet, als Nate sechs war und im Pool der Nachbarn ertrunken ist. Warum will sie dann auf einmal ein Teil von meinem sein? Sie kann nach all den Jahren nicht plötzlich beschließen, meine Mutter zu sein und für mich da zu sein. Wo war sie denn früher, wenn ich sie brauchte? Nein, sie hatte ihre Chance, meine Mutter zu sein, als ich eine brauchte. Im Moment brauche ich sie zwar wirklich, aber das werde ich nicht immer. Sobald es mir besser geht, werde ich sie nicht mehr brauchen. Dann kann sie zum Cape zurückkehren, wo sie hingehört, und ich kann zu meinem Leben zurückkehren, wo ich hingehöre. Wir können dann beide wieder dorthin zurückkehren, wo wir einander nicht brauchen. Und das wird für alle Beteiligten das Beste sein.
Ich schlage die Augen auf und seufze. Dann schnappe ich mir die Fernbedienung und schalte den Fernseher ein. Ich frage mich, wer heute bei Ellen zu Gast ist.
SIEBZEHNTES KAPITEL
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Es ist erst kurz nach 10.00 Uhr, und ich habe schon jetzt einen richtig schlechten Tag. Vor ein paar Minuten habe ich versucht, Bob anzurufen, aber er hat nicht abgenommen. Ich frage mich, ob er es weiß.
Ich sitze im Fitnessraum an dem Puzzle- und Spieletisch vor der Aufgabe, mit dem Löffel, den ich in der linken Hand halte, die roten Plastikperlen aus der weißen Müslischale zu meiner Rechten in die unsichtbare Müslischale zu meiner Linken
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