Mehr als nur ein halbes Leben
ist, und kein Versprechen, dass sie es je tun wird. Früher hatte ich ein erfülltes und erfolgreiches Leben. Was habe ich jetzt noch?
Ich habe einen Gehstock in einer Hand und einen Löffel in der anderen.
Und noch drei Tage.
»Ich verstehe gar nicht, was los ist, Sarah«, sagt meine Mutter.
Wir sind wieder in meinem Zimmer, meine Mutter auf ihrem Stuhl, ich in meinem Bett.
»Ist schon gut«, erwidere ich.
»Das ist doch eine tolle Neuigkeit. Das heißt, dass keine Gefahr für deine Gesundheit besteht.«
»Ich weiß.«
»Und du wirst sehen, zu Hause wird es dir so viel besser gehen.«
»Mhm.«
Ich freue mich darauf, Abschied von diesem Ort zu nehmen. In drei Tagen werde ich fünf Wochen hier gewesen sein, und ich wollte nie auch nur eine Sekunde länger bleiben als nötig. Ich werde dieses unbequeme Bett nicht vermissen, die schwache Dusche, die rauen Handtücher, das fade Essen, den durchdringenden Geruch von Handreinigern und Desinfektionsmitteln, den Fitnessraum, den trostlosen Blick auf das Gefängnis, Martha. Erst recht nicht vermissen werde ich diese unheimlichen nächtlichen Krankenhausgeräusche, die mich aus dem Schlaf reißen, sodass ich jede Nacht hellwach und beunruhigt daliege – das Stöhnen vor unerträglichen Schmerzen, das panische und wilde Aufkreischen eines Patienten, der aus einem Albtraum hochschreckt, vermutlich noch einmal den entsetzlichen Unfall durchlebt, der ihn hierhergebracht hat, das kojotenartige Wimmern der jungen Mutter, die ihrer Sprache und ihres Neugeborenen beraubt wurde, die Notrufmeldungen über den Lautsprecher mit ihrer unausgesprochenen, schaurigen Botschaft, dass jemand – vielleicht jemand im Zimmer nebenan, vielleicht jemand mit einer Gehirnverletzung wie meiner – eben gestorben ist. Nein, ich werde diesen Ort kein bisschen vermissen.
Aber ich hatte mir vorgestellt, unter etwas anderen Bedingungen von hier wegzugehen. In der Szene, bei der ich in meinem Kopf seit Wochen Regie geführt habe, lief mein Auszug immer ungefähr so ab: Ich würde jedes einzelne Mitglied meines Therapeuten-Teams umarmen – die alle Freudentränen in den Augen hätten –, ihnen für ihren Beitrag zu meiner vollständigen Genesung danken und versprechen, in Verbindung zu bleiben. Dann würde ich – begleitet von der Die Stunde des Siegers -Titelmelodie und mit der linken Hand zum Abschied winkend – selbstsicher und ohne Stock durch die Eingangshalle laufen, die voller applaudierender Therapeuten, Ärzte und Patienten sein würde. Das Personal würde von Stolz überwältigt sein, die Patienten von Hoffnung erfüllt, und ich würde für alle eine Inspiration sein. Am Ende der Eingangshalle würden sich die Automatiktüren öffnen, und ich würde in einen klaren, sonnigen Tag hinaustreten. In die Freiheit und mein altes Leben.
Und da ich praktischerweise vergessen habe, dass mein Wagen auf einem Schrottplatz liegt, habe ich mir sogar vorgestellt, ich würde selbst in meinem Acura nach Hause fahren. Doch als ich jetzt in meinem Zimmer sitze – noch drei Tage vor mir, mit der linken Hand unfreiwillig einen Löffel umklammernd, während ich darauf warte, dass Martha mit Suppe wiederkommt, erschöpft von dem peinlich kurzen und nur mit dem Gehstock zu bewältigenden Weg den Flur hinunter –, kommt es mir mehr als lächerlich vor, dass ich eine so weit hergeholte Fantasie je zusammengesponnen und dann auch noch geglaubt habe.
»Und ich werde dir weiterhin bei der Therapie helfen«, sagt meine Mutter.
Das ist weder ein Angebot noch eine Frage. Es ist eine Annahme, eine vorweggenommene Schlussfolgerung. Ich starre sie an, während ich versuche, aus ihr schlau zu werden. Sie trägt eine schwarze Hose mit elastischem Bund, die sie in schwarze Ugg-Boots-Imitate gesteckt hat, einen weißen Pullover mit Zopfmuster, eine schwarz umrandete Brille, baumelnde rote Weihnachtsohrringe und einen dazu passenden Lippenstift. Unter dem Make-up und dem Alter in ihrem Gesicht kann ich noch immer die junge Frau sehen, die sie einmal war, aber ich habe eigentlich keine Vorstellung davon, wie sie zwischen damals und heute aussah.
Ich kann mich an das pfirsichfarbene Rouge erinnern, das sie immer auf ihren sommersprossigen Wangen trug, ihren lindgrünen Lieblingslidschatten, die feinen Haarsträhnen an den Ohren, die nie in ihrem langen Pferdeschwanz blieben, daran, wie sich ihre Nasenlöcher blähten und wieder zusammenzogen, wenn sie lachte, an das Funkeln in ihren hellblauen Augen und den
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