Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
Unterstützung kann ich nicht einmal den Löffel loslassen, den ich in der linken Hand halte. Ich will, dass der Versicherungsanalytiker, der die Länge meines Aufenthalts festgelegt hat, auf der Stelle hierherkommt und mir in die Augen sieht, während ich den Löffel auf seinen Kopf richte und ihm drohe: »Sehe ich für Sie so aus, als ob ich fertig mit der Reha wäre?«
    Martha hat mir erklärt, dass ich zu Hause weiter an den Techniken arbeiten werde, die ich hier gelernt habe. Und Heidi hat mir versichert, dass ich andere Therapeuten haben werde, die auf ambulanter Basis ungefähr dieselbe Arbeit machen. Dr. Nelson – der Arzt, der hier meine Betreuung überwacht – hat gesagt: »Das Gehirn ist etwas sehr Merkwürdiges. Man kann nie wissen.« Und für diese weisen Worte hat er Medizin studiert.
    Nichts von dem, was man mir sagt, klingt nach einer guten Nachricht. Es klingt alles ein bisschen verschwommen und geringschätzig, weniger gründlich, weniger meinem Fortschritt verpflichtet, weniger einem Glauben an meinen Fortschritt verpflichtet. Es klingt, als ob ich nicht mehr auf dem Weg der Genesung wäre. Stattdessen klingt es, als hätte man mich auf einem Umweg in eine langsame, trostlose Sackgasse geführt, die zu einem verlassenen, mit Brettern vernagelten Gebäude führt, in dem mich jeder aufgegeben hat.
    Die Knoten in meinem Magen verheddern sich und kneifen mich. Ich verliere die Konzentration und verschütte einen Löffel roter Perlen. Die Perlen hüpfen, kreiseln und kullern schließlich vom Tisch. Während ich höre, wie sie kreuz und quer über den Linoleumboden rollen, und überlege, ob ich noch einen Löffel herausschaufeln soll, löst sich das Verheddern und Kneifen zu glühend heißer Wut auf, die ein Loch in meinen Magen sengt und in jede Zelle von mir eindringt. Ich kann sogar spüren, wie sie sich in meine linke Hand brennt. Ich will den Löffel hinwerfen, aber ich kann meinen eigenen Kung-Fu-Griff nicht lockern, daher umklammere ich stattdessen den Löffel, so fest ich kann, bis ich spüre, wie sich meine Fingernägel in die weiche Handfläche bohren. Es tut weh, und ich denke, es könnte sogar sein, dass ich blute, aber ich kann die Hand nicht öffnen, um es zu kontrollieren.
    »Ich will das nicht mehr machen. Ich will zurück in mein Zimmer.«
    »Ist ja gut. Nur noch einen Löffel. Sie machen das sehr gut«, lobt Martha.
    Was hat das denn für einen Sinn? Wie soll diese lächerliche Aufgabe irgendetwas ändern? Warum fahre ich nicht gleich heute nach Hause? Was sollen mir noch drei Tage in diesem Gefängnis denn nützen? Nichts. Es ist entschieden. Sie kann nicht gerettet werden .
    Mein Gesicht ist verschwitzt und gerötet; heiße Tränen steigen in mir hoch und brennen in meinen Augen. Ich will die Tränen wegwischen, aber meine rechte Hand ist nicht verfügbar, und von meiner linken könnte ich mir bestenfalls erhoffen, dass sie mir mit einem Löffel ins Auge sticht.
    »Ich will zurück in mein Zimmer«, sage ich mit brechender Stimme.
    »Kommen Sie, machen wir das hier erst noch fertig. Sie schaffen das.«
    »Ich will nicht. Ich fühle mich nicht gut.«
    »Sie sieht nicht gut aus«, bestätigt meine Mutter.
    »Wo fühlen Sie sich nicht gut?«, fragt Martha.
    »Im Magen.«
    Martha wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr.
    »Es ist fast Mittag. Glauben Sie, etwas zu essen würde helfen?«
    Nein, ich glaube nicht, dass ein beschissenes Mittagessen in der Cafeteria helfen wird.
    Ich zucke mit den Schultern.
    Sie sieht noch einmal auf ihre Armbanduhr.
    »Okay, wir haben noch ein bisschen Zeit. Wie wär’s, wenn Sie mit Ihrem Stock und Ihrer Mom zurück zu Ihrem Zimmer gehen, und ich hole Ihnen ein frühes Mittagessen und treffe Sie dort?«
    Na toll. Jetzt werde ich die nächsten zwanzig Minuten damit verbringen, einen Korridor hinunterzugehen, für den ich normalerweise dreißig Sekunden brauchen würde.
    »Helen, können Sie ihr aus der Schlinge helfen und sie zurück zu ihrem Zimmer führen?«
    »Natürlich«, sagt meine Mutter.
    Martha beäugt meine Hand, die noch immer den Löffel umklammert hält.
    »Ich werde Ihnen etwas Suppe bringen.«
    Meine Mutter befreit meinen rechten Arm aus seiner Gefangenschaft, reicht mir meinen Gehstock, und wir machen uns auf den Weg zurück zu meinem Zimmer. Ich habe keine positive Einstellung mehr. Keine Faust mehr. Keinen Kampfgeist mehr. Ich habe kein Interesse mehr an einem Akzeptieren oder Anpassen. Ich habe eine Gehirnverletzung, die nicht verheilt

Weitere Kostenlose Bücher