Mehr als nur ein halbes Leben
gleichzeitig zu konzentrieren – einen Liter für jedes –, brauche ich jetzt allein vier Liter Gehirnbrennstoff, um mir der linken Seite bewusst zu sein, sodass nur noch ein Liter Gehirnbrennstoff bleibt, um mich auf eine einzige andere Sache zu konzentrieren. Und dann ist mein Tank einfach leer. Daher könnte ich ein bisschen mehr Konzentration gut gebrauchen. Außerdem könnte mir das Meditieren helfen, meinen Blutdruck und meinen Angstpegel zu senken, die beide ungesund und unproduktiv hoch sind.
Also, los geht’s. Ich schließe die Augen.
Einatmen. Ausatmen. Auf den Atem konzentrieren. Atmen. Sonst nichts. Konzentrieren. Atmen. Oh, ich darf nicht vergessen, meiner Mutter zu sagen, dass sie ein paar Decken unter ein Ende von Linus’ Matratze in seinem Gitterbettchen legen soll, damit er leichter atmen kann. Bob sagt, er hat einen schlimmen Schnupfen. Ich hasse es, wenn die Kinder krank sind und nicht wissen, wie sie sich die Nase putzen sollen. Wie alt waren denn die anderen beiden, als sie es gelernt haben?
Armer Linus. Vermutlich wird er von jetzt an bis Mai kränkeln. Ich schwöre, sobald die Wintermäntel aus den Schränken geholt werden, ist bei uns zu Hause immer irgendjemand krank. Die ganzen Kinder in der Schule und der Kindertagesstätte schniefen und husten sich ständig gegenseitig an, sabbern auf die Spielsachen, wischen sich ihre laufenden Nasen mit den Händen ab und fassen sich gegenseitig an, hängen sich mit dem Mund an die Hähne des Trinkwasserbrunnens, teilen sich Spielsachen und Snacks und Keime. Es ist so ekelhaft.
Armer Linus. Ich sollte meiner Mutter auch sagen, dass sie die Dusche möglichst heiß aufdrehen und Linus den Dampf einatmen lassen soll. Das wird ihm helfen. Ich vermisse unsere Dusche. Die Dusche hier hat kaum Druck und bleibt nicht lange genug heiß.
Ich vermisse unsere Badetücher. Dicke, weiche, luxuriöse türkische Baumwolle. Und sie riechen himmlisch, vor allem wenn sie frisch aus dem Trockner kommen. Die Badetücher hier sind dünn und steif und riechen zu stark nach industriellen Bleichmitteln. Ich sollte Bob bitten, mir ein Badetuch mitzubringen.
Augenblick. Was tue ich hier eigentlich? Hör auf, an Badetücher zu denken. Hör auf zu denken. Sei still. Atme. Achte auf deinen Atem. Meditiere. Es fällt mir schwer. Alles fällt mir schwer. Ich glaube nicht, dass ich je so hart an irgendetwas gearbeitet habe, ohne Erfolg zu haben. Ich habe einfach keinen Erfolg. Ich scheitere. Ich akzeptiere nicht und passe mich auch nicht an. Ich scheitere einfach nur. Doch ich kann nicht zulassen, dass Bob sieht, wie ich scheitere. Oder die Kollegen. Wie sollen die anderen mich ertragen, wenn ich nicht wieder so werde, wie ich vor dieser Sache war? Ich muss wieder gesund werden. Auf der Arbeit wollen sie mich nicht wiederhaben, wenn ich nicht wieder gesund werde. Das kann ich ihnen nicht verdenken. Ich würde mich auch nicht wiederhaben wollen.
Was ist mit Bob? Wird er mich wiederhaben wollen? Natürlich wird er das. Er würde wie ein Vollidiot dastehen, wenn er seine hirnverletzte Ehefrau verlassen würde. Aber er hat keine hirnverletzte Ehefrau verdient. Er hat seine Partnerin geheiratet, nicht jemanden, den er für den Rest seines Lebens an- und ausziehen, versorgen und pflegen muss. Dazu hat er sich nicht verpflichtet. Ich werde das Kreuz sein, das er zu tragen hat, und das wird er mir übel nehmen. Er wird eine hirnverletzte Ehefrau am Hals haben, um die er sich kümmern muss; er wird todunglücklich, erschöpft und einsam sein, und er wird eine Affäre haben, was ich ihm nicht werde verdenken können.
Augenblick, kann ich mit dieser Geschichte überhaupt Sex haben? Ich denke schon. Eigentlich müsste ich es können. Alle dafür erforderlichen Teile befinden sich genau in der Mitte. Gott sei Dank habe ich keine linke Vagina, die ich dafür erst finden muss. Aber wird Bob so überhaupt Sex mit mir haben wollen? Manchmal sabbere ich aus dem linken Mundwinkel, ohne es zu merken. Wirklich sehr attraktiv. Und ich kann mir weder die Achseln noch mein linkes Bein rasieren. Ich bin ein sabbernder, haariger Kresseigel, der nicht laufen kann. Bob und ich hatten schon vor meinem Unfall kaum noch Sex. Wie wird es jetzt weitergehen? Was, wenn er aus Pflichtgefühl bei mir bleibt und wir nie wieder Sex haben?
Sarah, hör auf. Hör auf mit diesem ganzen negativen Denken. Das bringt doch nichts. Sei positiv. Vielleicht wird der Durchschnittsbetroffene nicht wieder gesund, oder
Weitere Kostenlose Bücher