Mehr als nur ein halbes Leben
lassen wie ein Hufeisen um einen Pfosten. Und ich habe eine Idee.
»Wollen wir tauschen?«, frage ich sie, als wären wir in der Grundschule, wo ich ihr mein Thunfischbrot für ihres mit Erdnussbutter und Marmelade anbiete.
»Nein, Sarah, deine ist …«
»Zu kompliziert«, vermute ich.
»Teuer«, sagt sie.
»Eine tägliche Quelle des Ärgers. Ich brauche einen Abschluss am MIT, um die Schnalle zu handhaben.«
»Das kann ich nicht annehmen«, wehrt sie ab, aber ich kann sehen, dass sie in Versuchung gerät. »Diese Uhr ist vielleicht dreißig Dollar wert. Deine Mutter oder Bob könnten dir eine bestellen.«
»Ja, aber ich will das jetzt gleich machen. Wie war das in diesem Vortrag, den du mir eben gehalten hast? Akzeptieren und anpassen. Ich denke, das ist jetzt eine Rosa-Plastikuhr-Phase für mich.«
Ein Lächeln schleicht sich in ihre Augen.
»Okay, aber wenn du sie wiederhaben willst, sagst du’s mir einfach.«
»Abgemacht.«
Heidi ersetzt meine Diamant-und-Platin-Cartier durch ihre rosa Plastikuhr. Ich halte sie mit der rechten Hand am Rand der Öffnung, finde meinen Diamantring auf der linken Seite und klatsche mir dann mit einem glücklichen Zufallstreffer Heidis Uhr um das linke Handgelenk. Ich kann sogar die Uhrzeit lesen. 11.12 Uhr. Meine Mutter klatscht in die Hände.
»Wow, Sarah, die ist ja wirklich toll«, staunt Heidi, voller Bewunderung für ihren guten Tausch. »Bist du dir sicher?«
Ich denke an all die quälenden Minuten, die ich mir eben erspart habe.
Akzeptieren und anpassen.
Du gibst auf. Du wirst verlieren. Du wirst scheitern.
Haltung. Faust. Kampf.
»Ganz sicher. Aber egal, was du sagst oder wie hart ich arbeiten muss, um deine Crocs werde ich dich niemals bitten.«
Sie lacht.
»Abgemacht.«
Keine Sorge, ich gebe nicht auf, sage ich zu meinem widersprüchlichen Selbst. Manchmal bin ich nur zu erschöpft, um noch zu kämpfen.
SECHZEHNTES KAPITEL
----
Meditation ist als neuester Punkt auf die Liste mit Rehatechniken gesetzt worden, die mir vielleicht oder vielleicht auch nicht helfen werden, zu meinem alten Leben zurückzukehren. Also meditiere ich. Na ja, ich versuche es. Ich hatte noch nie irgendeinen Hang zum Meditieren, und überhaupt kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie jemand so etwas wollen kann. Für mich wirkt Meditation so ziemlich, als würde man gar nichts tun. Ich tue nicht nichts. Ich fülle jede Sekunde jedes Tages mit irgendetwas aus, das erledigt werden kann. Hast du fünf Minuten? Schreib eine E-Mail. Lies die Schulmitteilungen. Wirf eine Ladung Wäsche in die Waschmaschine. Spiel mit Linus Guck-guck . Hast du zehn? Ruf jemanden zurück. Entwirf die Tagesordnung für eine Besprechung. Lies eine Leistungsbeurteilung. Lies Lucy ein Buch vor. Sitz mit geschlossenen Augen da und atme, ohne irgendetwas zu planen, zu organisieren oder zu leisten? Ich glaube nicht.
Also, wenn ich mir jemanden vorstelle, der meditiert, dann niemanden, der so ist wie ich. Im Allgemeinen denke ich dabei an einen alten, kahlköpfigen buddhistischen Mönch, der aufrecht auf einer Bambusmatte in einem alten Tempel irgendwo in Tibet sitzt, mit geschlossenen Augen und einem Gesichtsausdruck, der weise und gelassen ist – so, als wisse er um das Geheimnis des inneren Friedens. Auch wenn ich meinen imaginären Mönch für seine Fähigkeit bewundere, diesen Zustand von offensichtlicher Zufriedenheit zu erreichen, so würde ich doch meine rechte Seite darauf verwetten, dass er nicht drei Kinder, zwei Hypotheken und viertausend Berater zu managen hat.
Aber jetzt habe ich keine E-Mails, Telefonate, Schulmitteilungen oder Wäsche zu erledigen (keine Wäsche waschen zu müssen ist einer der wenigen Vorteile, wenn man in einer Rehaklinik lebt), und die Kinder sind nicht hier. Baldwin ist kein buddhistischer Tempel, aber ich bin trotzdem mehr oder weniger kahlköpfig, und ich habe jede Menge Zeit. Außerdem mache ich mir allmählich Sorgen, dass zu viel Fernsehen tagsüber schädlich für mein restliches Gehirn sein könnte. Daher versuche ich es mit Meditation.
Heidi sagt, zu meditieren wird mir helfen, meine Konzentration zu steigern, wovon ich eindeutig mehr gebrauchen könnte. Vor dem Unfall konnte ich mich auf mindestens fünf Dinge gleichzeitig konzentrieren. Ich war ein Multitasking-Genie mit einem gewaltigen Überschuss an Gehirnleistung, die ich beliebig einsetzen konnte. Während ich vor dem Unfall fünf Liter Gehirnbrennstoff benötigte, um mich auf fünf Dinge
Weitere Kostenlose Bücher