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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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Ann Taylor –, tadellos, elegant, teuer, professionell, alle mit Knöpfen. Und da ist vermutlich noch nicht einmal dabei, was in meinem Schrank auf der linken Seite hängt. Heidi spürt meine Abneigung dagegen, mir ihre Philosophie zu Eigen zu machen.
    »Es ist wie damals, als Ben geboren wurde und er immer so schrecklich aufgestoßen hat. Monatelang hatte ich den Brei, den er wieder hochgewürgt hat, auf den Schultern, auf dem Rücken und auf der Brust. Es war ekelhaft. Ich musste für fast ein Jahr aufhören, all die Hemden und Pullover zu tragen, die nur chemisch gereinigt werden konnten. Es hätte mich ein Vermögen gekostet, ganz zu schweigen von der ganzen Zeit, die ich mit den ständigen Fahrten zur Reinigung verbracht hätte. Also habe ich stattdessen nur noch waschmaschinenfeste Baumwolle getragen. Es war ja nicht für immer. Es war nur für diese Phase meines Lebens. Und das hier ist jetzt eben keine Button-down-Hemd-Phase für dich.«
    Wir beide betrachten mich im Spiegel.
    »Ehrlich gesagt ist es auch keine Phase für Hosen mit Reißverschluss«, ergänzt sie dann.
    Allmählich begreife ich, dass sie mir nicht nur vorschlägt, mich von meinen ganzen schönen Büro-Hemden und meinen ganzen Jeans und anderen Hosen zu verabschieden, sondern auch, dass ich mich noch einmal neu anziehen soll. Ich soll mein Hemd und meine Jeans ausziehen, was bedeuten würde, dass ich auch meine Schuhe ausziehen müsste, und mit einer ganz anderen Garderobe noch einmal von vorn anfangen. Ich verkrafte nicht einmal die Andeutung dieses Vorschlags und breche in Tränen aus.
    »Ist ja gut. Sieh mal, dein Tag ist doch schon hart genug, oder?«
    Ich nicke und weine.
    »Okay. Dann lass uns ein paar einfache Anpassungen vornehmen, wo wir es können. Überziehhemden. Hosen mit elastischem Bund.«
    Unsere Blicke huschen hinüber zu meiner Mutter, die eine schwarze Synthetikhose mit elastischem Bund und einen unförmigen weißen Baumwollpullover trägt. Ich weine noch ein bisschen mehr.
    »Ich weiß. Ich weiß, du bist es gewohnt, immer sehr gepflegt und elegant auszusehen. Aber ich denke, wir sollten im Moment mehr Wert auf Unabhängigkeit legen als auf Mode. Die Vogue wird einfach noch ein bisschen warten müssen, bis sie ihr Fotoshooting mit dir machen kann.«
    Nicht witzig.
    »Meinst du vielleicht, mir gefallen die Crocs?« Sie reißt einen lila Gummifuß hoch. »Glaub mir, ich würde auch lieber Jimmy Choos tragen, aber die sind einfach viel zu unpraktisch für das, was ich hier tue.«
    Heidi reicht mir ein Taschentuch.
    »Aber wenn ich versuchen will, wieder hundertprozentig gesund zu werden, muss ich dann nicht das üben, was ich vor dem Unfall tun konnte?«
    »Sarah, ich hoffe, dass es dazu kommt. Ich hoffe, dass du wieder hundertprozentig gesund wirst. Aber das wirst du vielleicht nicht. Anstatt dich ausschließlich auf deine Genesung zu konzentrieren, solltest du dich vielleicht auch darauf konzentrieren zu lernen, besser mit dieser Situation zu leben.«
    Ich bin es inzwischen gewohnt, diese Art sich geschlagen gebende, negative Einstellung von Martha zu hören und sie zu ignorieren, aber ich kann nicht glauben, dass ich sie jetzt auch von Heidi zu hören bekomme, meiner Verbündeten, meiner Freundin.
    »Ich weiß, das ist wirklich schwer zu akzeptieren, aber es wird dir in deiner Situation so viel helfen, wenn du es kannst.«
    Nicht schon wieder. Die Situation akzeptieren. Trinken sie und meine Mutter dasselbe Kool-Aid? Akzeptieren. Anpassen. Diese Worte schmecken mir überhaupt nicht. Ehrlich gesagt fällt es mir schwer, auch nur über diese Worte nachzudenken, ohne dass ich höre: Aufgeben. Verlieren. Scheitern . Akzeptieren und anpassen. Aufgeben. Verlieren. Scheitern.
    Was ist mit dem Poster? Haltung. Faust. Kampf. Ich balle die Faust und schniefe.
    »Du meinst also, ich soll noch einmal von vorn anfangen?«, frage ich in Bezug auf das, was ich im Moment anhabe.
    »Nein, natürlich nicht. Aber morgen, Helen, sollten wir etwas Einfacheres auswählen, okay?«
    »Okay«, sagt meine Mutter.
    »Warst du mit dem Anziehen fertig, oder fehlt noch irgendwas?«, fragt Heidi.
    »Meine Uhr.«
    Meine Mutter reicht Heidi meine Cartier-Uhr, und Heidi gibt sie an mich weiter. Aber anstatt mit dem langwierigen Prozess des Umlegens zu beginnen, vergleiche ich sie mit der Uhr an Heidis Handgelenk. Ihre ist eine rosa Plastik-Sportuhr, digital, ohne Schnalle. Sie ist wie ein C geformt und scheint sich so leicht um ihr Handgelenk legen zu

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