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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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zieht, dann kann er bei mir zu Hause bleiben. Und wenn er bei mir zu Hause ist, dann werden wir die Hilfe meiner Mutter nicht brauchen, und sie kann in ihren VW Käfer springen und zurück zum Cape fahren. Und am Ende der vier Monate – wenn Bob seinen neuen, sicheren und sogar besser bezahlten Job hat – werde ich nicht nur so weit sein, dass ich allein zu Hause bleiben kann, sondern ich werde auch so weit sein, dass ich wieder bei Berkley arbeiten kann. Aber bis jetzt geschieht nichts von alldem. Falls Gott überhaupt zuhört, hat Er einen anderen Plan.
    »Was ist mit Abby? Vielleicht kann Abby ein bisschen mehr Zeit bei uns verbringen«, schlage ich vor.
    Wieder Schweigen. Ich starre aus dem Fenster. Der Schnee, der schwer auf den Bäumen und Feldern liegt, schimmert in der Sonne des späten Nachmittags. Vorhin in der Stadt war mir der Schnee gar nicht aufgefallen, aber jetzt, wo wir nach Westen durch die Vororte fahren, gibt es überall Bäume, Golfplätze und freie Flächen, auf die sich der Schnee friedlich legen kann, ohne zur Seite geschaufelt oder ganz weggeräumt zu werden.
    »Abby verlässt uns gleich nach Weihnachten für ein Unterrichtspraktikum in New York.«
    »Was?«
    »Ich weiß. Es ist ein schreckliches Timing.«
    »Das ist das schlimmste Timing, das man sich vorstellen kann!«
    »Ich weiß, und sie war hin- und hergerissen wegen ihrer Entscheidung, aber ich habe ihr gesagt, sie soll gehen. Ich habe ihr gesagt, du würdest wollen, dass sie geht.«
    »Warum hast du ihr denn so etwas Verrücktes gesagt?«
    »Sarah …«
    »Warum hast du mir nichts davon erzählt?«
    »Weil ich wusste, dass es dich nur stressen würde.«
    »Scheiße!«, fluche ich, völlig gestresst.
    »Okay. Das heißt, ohne Abby und ohne Zeit, einen Ersatz zu finden – und da deine Mutter sowieso ständig andeutet, dass sie es nicht eilig hat zu gehen –, habe ich sie gebeten zu bleiben. Wir brauchen sie, Sarah.«
    Ich sehe weiter aus dem Fenster auf die Landschaft, die an mir vorbeirauscht, während wir uns rasch unserem Zuhause nähern. Fast zu Hause. Fast zu Hause mit meiner Mutter und ohne Abby. Am westlichen Himmel steht die Sonne jetzt direkt auf Augenhöhe, schwebt genau unter der Stelle, wo die Sonnenblende sie abhalten würde, und blendet mich. Ihre Strahlen durch die Windschutzscheibe – die sich zu Beginn der Fahrt so herrlich warm auf meinem Gesicht angefühlt haben – sind jetzt unangenehm heiß, und ich komme mir vor wie eine Ameise unter einer Lupe, die kurz davor ist, versengt zu werden.
    »Kann ich bitte die Kontrolle über mein eigenes Fenster haben?«
    Ich betätige den Knopf und halte ihn gedrückt, »drehe« mein Fenster vollständig herunter. Kalte Luft peitscht in den Wagen. Für ein paar Sekunden fühlt es sich wundervoll an, aber dann ist es viel zu kalt und viel zu windig. Trotzdem lasse ich das Fenster so, wie es ist, entschlossen, mich in irgendeiner Sache durchzusetzen.
    Bob nimmt unsere Ausfahrt, und dann biegen wir in Welmont rechts in die Main Street ab. Das Stadtzentrum ist weihnachtlich herausgeputzt. Kränze hängen an den Straßenlaternen, Girlanden und weiße Lichter säumen die Schaufenster der Geschäfte, und die prächtige, zweihundert Jahre alte Fichte vor dem Rathaus ist bis zur Spitze mit bunten Lichterketten behängt – auch wenn sie um diese Zeit nicht angeschaltet sind. Die Sonne steht jetzt tief und blendet mich nicht mehr. Jeden Augenblick wird es dunkel sein, und die Main Street wird wie eine fröhliche, weihnachtlich schimmernde Postkartenidylle aussehen. Jetzt, wo der kürzeste Tag des Jahres bevorsteht, vollzieht sich der Wechsel von Tag und Nacht blitzschnell und ruft mir in Erinnerung, wie sich in einem unbeachteten Augenblick alles verändern kann.
    Bob biegt in die Sycamore Street ein. Wir fahren den Hügel hinauf, um die Kurve und in die Pilgrim Lane. Er biegt in unsere Auffahrt ein, und da ist es.
    Unser Zuhause.

ZWANZIGSTES KAPITEL
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    Ich erinnere mich noch daran, als ich nach Charlies Geburt nach Hause kam, weiß noch, wie ich durch die Haustür in den Windfang trat, einen Blick in die Küche und das Wohnzimmer dahinter warf und dachte, alles hätte sich verändert. Natürlich sah ich denselben Küchentisch mit denselben Stühlen, dasselbe braune Sofa mit dem dazugehörigen Zweisitzer, dieselbe Yankee-Kerze mitten auf demselben Couchtisch, unsere Schuhe auf dem Boden, unsere Bilder an den Wänden, den Stapel Zeitungen neben dem Kamin – alles genau so,

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