Mehr als nur ein halbes Leben
Sonnenlicht, das durch die Windschutzscheibe scheint, fühlt sich herrlich warm auf meinem Gesicht an. Mmm. Neonlicht tut das nicht. Es ist unvergleichlich.
Und die Luft in Baldwin war immer schal und abgestanden. Ich will wieder echte Luft spüren, ihre kühle Frische (wenn auch etwas verschmutzt von Abgasen) und ihre Bewegung. Ich »drehe« das Fenster einen Spalt breit hinunter. Die kühle Luft pfeift durch den Schlitz in den Wagen und tänzelt durch mein kurzes Haar. Ich atme sie durch die Nase ein, fülle meine Lungen damit und seufze vor purem Glück.
»Hey, es ist kalt«, sagt Bob und fährt mein Fenster mit der Zentralsteuerung auf der Fahrerseite wieder hoch.
Ich starre durch mein geschlossenes Fenster, aber binnen Sekunden kann ich dem Drang, wieder eine wilde Brise zu spüren, nicht mehr widerstehen. Ich drücke auf den Knopf, aber mein Fenster bewegt sich nicht. Ich drücke und drücke und drücke.
»Hey, mein Fenster klemmt«, sage ich weinerlich und vorwurfsvoll, weil mir klar ist, dass Bob auf den Sperrknopf gedrückt und für alle anderen im Wagen entschieden haben muss, dass die Fenster geschlossen bleiben werden. Jetzt weiß ich, wie sich die Kinder fühlen, wenn ich das mit ihnen mache.
»Hör zu, bevor wir nach Hause kommen, will ich mit dir über deine Mutter reden«, ignoriert Bob meine Beschwerde. »Sie wird noch eine Weile bei uns bleiben.«
»Ich weiß, sie hat es mir gesagt«, erwidere ich.
»Oh. Gut«, sagt er.
»Neeiin, nicht gut. Ich will nicht, dass sie bleibt. Wir brauchen sie nicht. Ich schaffe das schon«, entgegne ich.
Er sagt nichts. Vielleicht grübelt er darüber nach. Oder vielleicht ist er auch froh, endlich meine sehr entschiedene Meinung zu dem Thema zu hören (nach der er mich schon längst hätte fragen sollen), und gibt mir zu hundert Prozent recht. Vielleicht lächelt und nickt er. Aber ich habe keine Ahnung, was er tut oder denkt, denn ich bin zu gebannt von der Landschaft vor meinem Fenster, um meine Aufmerksamkeit wieder nach links zu richten, daher weiß ich nicht, was sein Schweigen zu bedeuten hat. Er befindet sich auf dem Fahrersitz. Er ist eine Stimme im Wagen, wenn er redet, und er ist ein unsichtbarer Chauffeur, wenn er schweigt.
»Sarah, du kannst noch nicht allein zu Hause bleiben. Das ist nicht sicher.«
»Ich schaffe das schon. Ich komme zurecht.«
»Was brauchen wir, eine Art Zwölf-Schritte-Programm für dich? Du bist noch nicht so weit, allein zu Hause zu bleiben. Alle Ärzte und Therapeuten haben das gesagt.«
»Dann können wir jemanden einstellen.«
»Das können wir wirklich nicht. Du hast all deine Krankheits- und Urlaubstage bereits aufgebraucht, und das, was du aufgrund deiner Berufsunfähigkeitsversicherung ausgezahlt bekommen würdest, beträgt nicht einmal die Hälfte von dem, was du vorher verdient hast. Mein Job hängt an einem seidenen Faden. Jemanden einzustellen ist teuer, aber deine Mutter ist hier – und sie nimmt kein Geld.«
Na ja, meine Mutter berechnet uns vielleicht keinen Stundensatz, aber ich möchte wetten, wenn sie bleibt, werde ich einen hohen Preis dafür bezahlen. Es muss eine andere Lösung geben. Ich sehe ja ein, wie ernst unsere finanzielle Lage allmählich wird. Ich verdiene mehr als Bob, und jetzt fällt mein Einkommen weg, und ich kann nicht mit Sicherheit sagen, wann genau ich wieder so viel verdienen werde. Die Möglichkeit, dass ich es vielleicht nie wieder tun werde, tanzt inzwischen mindestens einmal täglich über den Boden meiner besorgten Gedanken, legt atemberaubende Sprünge und Pirouetten hin und stellt sich allzu lange ins Rampenlicht, bevor sie wieder in den Kulissen verschwindet. Ich muss mein Gehalt zurückbekommen. Das ist unverzichtbar. Selbst wenn Bob es schaffen sollte, sich an seinen Job zu klammern, und die Wirtschaft es schaffen sollte, sich wieder zu berappeln, werden wir uns unser Leben ohne meinen vollen Beitrag nicht leisten können.
Ich muss gestehen, ich habe darum gebetet, Bob möge seinen Job verlieren. Um genau zu sein, habe ich sogar darum gebetet, er möge seinen Job verlieren und vier Monate lang keinen neuen finden. Ich weiß, das ist ein Spiel mit dem Feuer, und es klingt ohnehin nicht nach der Art von Gebet, die Gott erhören würde, aber ich verliere mich dennoch unwillkürlich mehrmals täglich verzweifelt in diesem Wunsch. Wenn Bob jetzt arbeitslos wird, dann wird er vier Monatsgehälter als Abfindung bekommen, und wenn er nicht sofort einen anderen Job an Land
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