Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
Vom Netzwerk:
Frösteln und einen wachsenden Hunger zurück. Das Pisces ist nur noch einen verlockenden Block weit entfernt.
    Bob hilft mir aus dem Mantel, setzt mich sicher auf meinen Stuhl und nimmt dann mir gegenüber Platz. Wir atmen beide auf und lächeln, dankbar dafür, wohlbehalten hier zu sein, endlich im Warmen und im Begriff, etwas zu essen. Ich nehme meine rosa Fleecemütze ab, hänge sie an den Griff meines Gehstocks und fahre mir mit den Fingern durchs Haar, als würde ich einem Hund den Bauch kratzen. Auch wenn mein Haar noch immer alles andere als lang ist, ist es inzwischen doch schon lang genug, um so auszusehen, als wäre die Frisur Absicht – nicht so, als würde es nachwachsen, nachdem es mir vor einer neurochirurgischen Notoperation abrasiert wurde. Wenn ich in den Spiegeln zu Hause zufällig einen Blick auf mich erhasche und merke, dass ich wie Annie Lennox aussehe, durchzuckt mich noch immer für einen Sekundenbruchteil der Gedanke: Wer zum Teufel ist das? Aber mit jedem Mal starre ich mich ein bisschen weniger an und fühle mich ein bisschen weniger von mir selbst entfremdet. Wie bei all den anderen Veränderungen, die mir im letzten Monat auferlegt wurden, gewöhne ich mich auch an diese allmählich und definiere neu, was normal ist. Ich freue mich darüber, dass meine Haare toll aussehen, ohne dass ich sie trocken föhnen, glätten, einsprühen oder sonst irgendwie an ihnen herumbasteln muss. Ich kann einfach duschen, sie trocken rubbeln, mit der Hand darüberfahren, als würde ich einem Hund den Bauch kratzen, und fertig. Ich hätte mir den Kopf schon längst rasieren sollen.
    Wie üblich an einem Samstagabend, ist das Pisces voll besetzt; offenbar ist es sicher vor der Rezession. Von meinem Platz aus kann ich ein junges Paar sehen, das ein Rendezvous hat, einen Tisch voller Männer mit gewichtigem Auftreten und Damen in Kostümen – und einen großen Tisch mit lautstarken Frauen: Damenabend. Und dann sind da noch Bob und ich.
    »Alles Gute zum Hochzeitstag, Schatz«, sagt Bob und überreicht mir eine kleine weiße Schachtel.
    »Oh Schatz. Ich habe gar nichts für dich besorgt.«
    »Du bist nach Hause gekommen. Das ist alles, was ich wollte.«
    Das ist so süß. Aber ich habe auch für Weihnachten noch nichts für ihn besorgt, und da ich ihm jetzt eben nur meine »Heimkehr« geschenkt habe, sollte ich besser zusehen, dass ich in die Gänge komme. Ich betrachte die weiße Schachtel eine Sekunde lang, bevor ich den Deckel abnehme – dankbar, dass er entweder so viel mitfühlenden Weitblick oder nicht genügend Zeit hatte und sie für mich unverpackt gelassen hat. In der Schachtel liegt ein Armband aus Sterlingsilber, an dem drei kleine Scheiben – etwa so groß wie Zehn-Cent-Stücke – befestigt sind. Drei Glücksbringer mit den Gravuren: Charlie, Lucy, Linus.
    »Danke, Schatz. Das ist wirklich wunderschön. Kannst du es mir umlegen?«
    Bob beugt sich über unseren kleinen Tisch vor und hält mein linkes Handgelenk hoch.
    »Nein, ich will es am rechten Handgelenk haben, wo ich es sehen kann.«
    »Aber es ist für dein linkes gedacht. Das Bimmeln der Glücksbringer wird dir helfen, deine linke Hand zu finden.«
    »Oh. Okay.«
    Das heißt, es ist nicht bloß ein aufmerksames Geschenk zum Hochzeitstag, ein sentimentales Schmuckstück. Es ist ein therapeutisches Hilfsmittel für meinen Neglect. Eine Zigarre ist nie nur eine Zigarre. Bob schließt die Schnalle und lächelt. Ich wackele mit der rechten Schulter, die wiederum automatisch meine linke Schulter in Bewegung setzt, und schon höre ich mein Handgelenk bimmeln. Ich bin ein Schaf mit einer Glocke um den Hals.
    »Weißt du, wenn du mir helfen willst, meine linke Hand zu finden, dann sind Diamanten auffälliger als Silber«, gebe ich ihm einen nicht sehr dezenten Hinweis für künftigen Reha-Klimbim.
    »Ja, aber die machen kein Geräusch. Und an den anderen Gliedern können wir noch mehr Glücksbringer anbringen.«
    Ich habe diesen klimpernden, mit irgendwelchem Zierrat überladenen Klunker an den Handgelenken anderer Frauen gesehen – Herzen, Hunde, Hufeisen, Engel, Schmetterlinge, Symbole für jedes Kind. Ich bin kein Sammlertyp. Ich besitze keine Hummel- oder Lladró-Figuren, Wackelkopf-Figuren, Elvis-Erinnerungsstücke, Münzen, Briefmarken, nichts dergleichen. Doch ich sehe das zufriedene Lächeln in Bobs Gesicht, und ich weiß, dass ich ab jetzt silberne Armband-Anhänger sammeln werde. Ich frage mich, ob Annie Lennox eines von diesen

Weitere Kostenlose Bücher