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Mehr als nur ein halbes Leben

Mehr als nur ein halbes Leben

Titel: Mehr als nur ein halbes Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Genova
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wieder da?« Ich deute mit einem Nicken auf sein Telefon.
    »Ja, entschuldige. Sieht aus, als ob wieder eine Entlassungsrunde ins Haus steht. Oh Mann, ich hoffe nur, mein Kopf wird dabei nicht rollen.«
    »Wäre das denn wirklich so schlimm?«, frage ich. »Du würdest doch eine Abfindung bekommen, oder?«
    »Nicht unbedingt.«
    »Aber alle anderen haben drei bis vier Monatsgehälter bekommen.«
    »Ja, aber dieser Brunnen wird bald trocken sein, falls er es nicht schon ist.«
    »Aber sagen wir mal, du würdest vier Monatsgehälter bekommen, dann wäre das doch gar nicht so schlecht.«
    »Es wäre nicht so gut, Sarah. Ich habe dort zu viel von mir investiert, als dass jetzt alles umsonst gewesen sein darf. Ich muss einfach durchhalten. Die Wirtschaft wird irgendwann schon die Kurve kratzen. Sie muss. Ich muss einfach durchhalten und das überstehen.«
    Während ich darum gebetet habe, Bob möge seinen Job verlieren, hat er offenbar darum gebetet, ihn zu behalten. Ich weiß nicht, ob Gott ein großer Mathematiker ist, aber ich nehme an, unsere Gebete haben sich gegenseitig aufgehoben. Es ist ungefähr so, wie wenn ich für die Demokraten stimme und Bob für die Republikaner. Ich verstehe und bewundere seinen unbedingten Willen, Erfolg zu haben und niemals aufzugeben. Ich habe denselben natürlichen Siegeswillen, aber während er mir im Blut liegt – wo die Pegel von Zeit zu Zeit schwanken –, ist Bobs in seinem Knochenmark verankert.
    »Was haben wir eigentlich letztes Jahr an unserem Hochzeitstag gemacht?«, frage ich in der Hoffnung, unser Gespräch von Bobs Job abzulenken.
    »Ich weiß es nicht mehr«, antwortet er. »Waren wir hier?«
    »Ich kann mich nicht erinnern. Könnte sein.«
    Wir haben in Cortland, Vermont, geheiratet, vor neun Jahren. Die Woche vor Weihnachten haben wir gewählt, weil das dort oben eine so stimmungsvolle und zauberhafte Zeit des Jahres ist. Die Lichter, Freudenfeuer, Weihnachtslieder und der fröhliche Jubel schienen unsere Verbindung zu feiern, zusätzlich zu den bevorstehenden Festtagen. Und unsere Hochzeitsreise war eine ganze Woche Skifahren auf frisch zugeschneiten, weitläufigen Pisten. Wir wussten, dass alle anderen Urlauber und ihre Kinder erst nach Weihnachten kommen würden.
    Die Kehrseite einer Hochzeit zu dieser Jahreszeit ist, dass unser Hochzeitstag jetzt oft in dem ganzen Rummel untergeht, den die Vorbereitungen für ein Weihnachtsfest mit Kindern mit sich bringen. Außerdem ist es für mich die Zeit der Jahresabschluss-Leistungsbeurteilungen, was bedeutet, dass ich noch mehr Stress und Arbeit um die Ohren habe als sonst. Daher waren unsere Hochzeitstage in den letzten Jahren nicht unbedingt Großereignisse.
    Wir schieben unsere lückenhaften Erinnerungen beiseite und reden über die Kinder. Dann erzähle ich ein bisschen etwas von meiner ambulanten Therapie und vermeide es sorgfältig, über Berkley oder meine Mutter zu sprechen. Währenddessen sieht Bob alle paar Sekunden auf sein Telefon, das in Sichtweite vor ihm auf dem Tisch liegt – still, aber darum flehend, berührt zu werden. Er blickt gequält, wie ein Alkoholiker auf Entzug, der auf seinen Lieblingsmartini starrt. Ich will eben schon vorschlagen, dass er entweder noch einmal nachsehen oder es einstecken soll, als unser Essen kommt.
    Ich habe das gegrillte Rinderfilet mit Meerrettich-Kartoffelpüree und geröstetem Spargel bestellt und Bob die Nantucket-Kammmuscheln mit Flaschenkürbis-Risotto. Alles sieht köstlich aus und duftet wundervoll. Ich bin am Verhungern und im Begriff zuzulangen, als ich auf einmal verwirrt und verlegen begreife, dass ich bei meiner Essenswahl nicht mitgedacht habe.
    »Schatz, ich kann das nicht essen«, sage ich.
    »Was denn, stimmt etwas nicht damit?«
    »Nein, mit mir stimmt etwas nicht.«
    Er sieht zwischen mir und meinem nicht angerührten Essen hin und her, während er mit demselben analytischen Denken, mit dem er jedes wichtige Problem auf der Arbeit angeht, versucht zu ergründen, wovon ich rede – ohne es zu verstehen. Und dann versteht er es.
    »Ah. Warte, lass uns kurz tauschen«, bietet er an.
    Er vertauscht unsere beiden Teller, und ich esse ein paar seiner Muscheln und etwas von seinem Risotto, während er mein Fleisch klein schneidet. Ich komme mir wie eine Idiotin vor, während ich zusehe, wie er mein ganzes Filet in ordentliche, mundgerechte Happen zerteilt, als wäre ich ein unfähiges Kind. Das junge Paar neben uns bricht wieder in Gelächter aus. Ich werfe

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