Mehr als nur ein Zeuge
grinst, und die Überschrift lautet: »Wieder Gold für die tapfere Ellie.«
Als ich weiterlese, erfahre ich, dass Ellie kürzlich ein wichtiges Qualifikationsrennen für die Paralympics gewonnen hat, und dass sie von der Hüfte abwärts gelähmt ist, weil sie sich mit zwölf Jahren bei einem Turnunfall die Wirbelsäule gebrochen hat.
Jetzt ist sie siebzehn. Also nur drei Jahre älter als ich, aber wenn diese drei Jahre zwischen einem vierzehnjährigen Jungen und einem siebzehnjährigen Mädchen liegen, könnte sie, ehrlich gesagt, genauso gut dreißig sein. Besonders dann, wenn der Vierzehnjährige so tut, |46| als wäre er erst dreizehn. Das ist unfair, finde ich, wenn man bedenkt, dass sich ein Mädchen wie Ashley Jenkins jeden Jungen in jedem Alter aussuchen kann. Natürlich bin ich nicht scharf auf Ellie, es geht bloß ums Prinzip – und das ist sexistisch!
Dazu kommt der Rollstuhl, der das Ganze noch spannender macht, denn wahrscheinlich fällt es Ellie nicht gerade leicht, einen Freund zu finden, was den Altersunterschied wieder aufwiegen könnte … Soll heißen, vielleicht könnte sie sich ja doch für jemanden interessieren, der ein bisschen jünger ist als sie, aber dafür keine Vorurteile wegen Behinderungen und so was hat und auch gern den Rollstuhl schiebt … so was hängt natürlich auch davon ab, was die Leute dazu sagen würden … Aber theoretisch habe ich keine Vorurteile. Nicht, wenn das Mädchen so gut aussieht wie Ellie.
Na gut, ich geb’s zu. Ich fahr irgendwie auf Ellie ab. Wir könnten ein ziemlich ungewöhnliches Paar sein, so wie … wie … äh … Paul McCartney und Heather Mills McCartney, jedenfalls wenn sie ein ganzes Stück älter wäre als er und nicht umgekehrt, und wenn sie nicht auf die Idee gekommen wären, einander zu hassen und sich scheiden zu lassen natürlich.
»Du hast doch bestimmt Hunger«, sagt meine Mum. Sie hat echt das Talent, mich aus den spannendsten Überlegungen zu reißen. Schon kramt sie im Kühlschrank, als könnte darin auf wundersame Weise eine Mahlzeit auftauchen. Was natürlich nicht passiert. Also übernehme ich das Kommando und hole ein Stück uralten Käse raus |47| und ein paar Zwiebeln, die sich bereits in Grünpflanzen verwandeln. Ich schneide die Zwiebeln klein, brate sie an, raspele den Käse und koche Spaghetti.
Wir haben keine eingespielten Einkaufsgewohnheiten, was nicht weiter verwunderlich ist, denn die hatten wir noch nie. Aber früher hatten wir Gran, die uns was gekocht hat, und der Dönerladen drei Häuser weiter war echt gut und manchmal sind wir auch mit dem Bus zum Supermarkt gefahren. Jetzt war Mum vermutlich schon tagelang nicht mehr aus dem Haus, aber ich will nicht, dass sie in Tränen ausbricht, darum mache ich ihr keine Vorwürfe, dass sie nicht eingekauft hat.
Dabei ist es nicht mal ein hübsches Haus, in dem wir festsitzen. Es ist größer als alle Wohnungen, in denen wir vorher gelebt haben – drei Zimmer, dazu ein ordentliches Bad, nicht nur eine Dusche, und eine abgetrennte Küche, die groß genug für einen Tisch und zwei Stühle ist. Aber verglichen mit unserer gemütlichen rosa-blauen Wohnung kann dieses Haus niemals unser Zuhause werden. Alles ist beige oder braun – Teppiche, Möbel, Vorhänge –, an den weinroten Wänden hängen keine Bilder und die Küche ist so weiß, dass es blendet. Wie beim Zahnarzt.
Zu Hause war unser Kühlschrank voller Fotos, der Radiosender
Capital Radio
dudelte ständig, und ich konnte aus dem Fenster schauen und sehen, wie sich die Leute Tattoos machen ließen und die Fingernägel. Wie sie auf den Bus warteten. Wie sie sich stritten, sich küssten und ihre Kinder anschrien. Wie sie Kochbananen, Süßkartoffeln, |48| Kebabs, Eis und Okraschoten kauften – in unserer Straße gab es alles zu kaufen. Es roch nach gebratenem Fleisch, den Abgasen der Busse und nach Curry und Haarspray. Es wurde nie langweilig. Jeder Tag war anders.
Hier ist es immer ruhig und alles, was man vom Fenster aus sieht, sind graue Häuser. Wenn der Typ von gegenüber sein Auto wäscht, was er jeden Sonntag macht, ist das schon ein Ereignis. Kein Wunder, dass Mum mit den Nerven runter ist.
Beim Essen – besser gesagt: Ich esse und Mum wickelt Spaghetti um ihre Gabel und lässt sie wieder runterrutschen – frage ich: »Sag mal, Mum, weißt du eigentlich, vor wem uns die Polizei versteckt? Hat dir Doug was darüber gesagt?«
Ich wüsste gern, ob Nathan was damit
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