Mehr als nur ein Zeuge
Krankenhaus. Kann einer von euch mitfahren?«
Eigentlich müsste Ellie mitfahren, aber ich weiß nicht, wie das alles mit dem Rollstuhl hinhauen soll. »Fahr du mit, Joe«, sagt sie. »Ich rufe Dad an und überlege, was wir mit den Jungs machen. Mum ist schon im Krankenhaus, sie arbeitet ja dort, in der Chirurgie.«
|310| Die Sanitäter bringen Claire auf einer Trage die Treppe runter und wir steigen alle in den Krankenwagen. Ellie drückt mir noch eine Jacke von ihrem Vater in die Hand, und ich ziehe sie über – es ist ein riesiges, muffiges Fleece-Ding, aber es verdeckt immerhin das Blut und wärmt mich auch ordentlich, denn obwohl es ein warmer Sommertag ist, zittere ich auf einmal vor Kälte.
Wir rasen mit jaulender Sirene durch die Straßen, und ich muss an den Krankenwagen denken, den ich damals im Park gerufen habe. Den Krankenwagen, den ich nie gesehen habe. Den Krankenwagen, auf den ich nicht gewartet habe. Und jetzt halte ich Claires Hand und rattere stumm ein Gegrüßet-seist-du-Maria nach dem anderen runter, denn wenn es bei Gran für ein Wunder gereicht hat, dann klappt es vielleicht auch bei Claire.
In der Notaufnahme wartet schon Ellies Mutter. Sie trägt Schwesterntracht, was mich ein bisschen an Arrons Mum erinnert, aber sie spricht kein Wort mit mir, sondern nimmt nur Claires Hand und sagt: »Ist ja gut, Schätzchen, ist ja gut. Mama ist da, alles wird gut.«
Die ganze Truppe verschwindet in einem Flur, und ich weiß nicht, was ich jetzt machen soll, also setzte ich mich in eine Ecke und warte. Als Ellie und ihr Vater eintreffen, gehen sie schnurstracks an mir vorbei, ohne mich zu sehen. Ein Arzt nimmt sie in Empfang und bringt sie irgendwohin.
Wahrscheinlich sollte ich einfach nach Hause gehen, aber ich kann mich nicht überwinden aufzustehen. Wenn ich doch nur Gran anrufen könnte, damit sie herkommt |311| und sich um mich kümmert. Nach einer Weile denke ich an Mum, wie sie sagt: »Für den Übergang fände ich das gar nicht so schlecht«, und ich denke, na schön, manchmal muss man Kompromisse schließen. Also schicke ich ihr eine SMS:
bitte Nic hol mich ab. Krankenhaus, Notaufnahme, Ty.
Ihre erste Antwort lautet:
wtf
. Dann schickt sie mir noch eine:
omg geht
’
s dir gut?
Und dann die dritte:
Bin unterwegs.
Sie und Alistair sind zwanzig Minuten später da – anscheinend habe ich ihre tolle Verabredung platzen lassen. Sie sieht mich sofort.
»Was ist passiert? Hat dich jemand überfallen?«
Alistair sieht ein bisschen belustigt aus, nachdem er begriffen hat, dass mir offensichtlich nichts fehlt.
Ich schüttele den Kopf. »Mir ist gar nichts passiert. Es geht um Claire, du weißt schon, Ellies Schwester.«
»Was ist denn mit ihr?«
Aber ich kann’s nicht sagen. Mum versteht das und nimmt mich in den Arm, und so sitzen wir eine Weile einfach da, bis Alistair sagt: »Da ist ja Ellie! He, Ellie, hier sind wir!«
Ellie kommt zu uns und wundert sich offensichtlich, Alistair hier anzutreffen, und sie schaut von Mum zu ihm und wieder zurück und überlegt fieberhaft, was er hier macht. Mir scheint, sie ist nicht allzu begeistert von dieser Entwicklung.
Sie beugt sich vor: »Joe, Claire geht es gut. Sie haben die Blutung gestillt. Jetzt wird die Wunde gerade vernäht. Claire muss über Nacht hierbleiben, aber sie erholt sich |312| bestimmt rasch. Sie haben gesagt, dass du ihr mit dem Druckverband womöglich das Leben gerettet hast.«
»Oh«, sage ich. »Gut. Ist sie wach? Grüßt du sie von mir?«
Aber Ellie schüttelt den Kopf und erwidert: »Sie schläft und sie lassen sie noch eine Weile schlafen. Morgen kannst du sie besuchen.«
Also bringt uns Alistair in seinem Ford Fiesta nach Hause, und als wir im Wagen sitzen, fragt Mum: »Woher weißt du überhaupt, wie man einen Druckverband anlegt? Du hast doch nie einen Erste-Hilfe-Kurs gemacht.«
»Ich hab mal zugesehen, wie Arrons Mom so was gemacht hat.«
Damit gibt sie sich zufrieden, denn Arrons Mum ist Krankenschwester, und ich habe mich eine Zeit lang oft bei denen zu Hause rumgetrieben. Außerdem stimmt es wirklich.
Aber es ist nicht die ganze Wahrheit. Dazu müsste ich noch ein bisschen mehr erzählen. Und zwar Folgendes: »Ich hab mal zugesehen, wie Arrons Mom so was gemacht hat, und zwar nachdem Arron und ich aus dem Park weggerannt sind. Und zwar an dem Tag, an dem ich auf Arron eingestochen habe.«
|313| Kapitel 25
Ashleys Geschichte
Es stellt sich raus, dass Alistair doch nicht so unnütz ist, wie er aussieht.
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