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Mehr als nur ein Zeuge

Mehr als nur ein Zeuge

Titel: Mehr als nur ein Zeuge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Keren David
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Zu Hause macht er eine Tasse grauenhaft süßen Tee und sagt, ich soll ihn trinken, gegen den Schock. Dann schaut er in unseren Kühlschrank, der wie üblich leer ist, und fährt sofort in den Supermarkt, um ihn aufzufüllen. Als er zurückkommt, kocht er Hühnchengeschnetzeltes, dazu macht er Nudeln und für sich und Mum eine Flasche Wein auf. Jetzt, beim Essen, ist er mir schon viel sympathischer, obwohl ihm klar sein sollte, dass der Weg zu Mums Herz nicht durch den Magen geht.
    Mum hat mir schon ein Bad eingelassen und ich esse im Schlafanzug. Maureen ist nicht da, nur ein Zettel, auf dem steht: »Musste weg, dringender Einsatz. Deiner Oma geht es gut. Bis bald.« So hat sie mich wenigstens nicht voll mit Blut gesehen.
    Mum schiebt die Nudeln auf ihrem Teller hin und her, dann steht sie auf und betrachtet meine Schuluniform mit einem Gesicht, als müsste sie sich gleich übergeben.
    »Mein Gott, was ist denn überhaupt passiert? Das viele |314| Blut   … Wie hat denn das Mädchen bloß ausgesehen?« Daran will ich gar nicht denken, und ich glaube, sie sieht es mir an, denn sie hakt nicht nach.
    »Ellie redet nie über ihre Schwester«, sagt Alistair. »Manchmal kommt die Kleine mit zum Training, aber sie sitzt immer nur in einer Ecke und liest, sie beteiligt sich in keiner Weise. Armes Mädchen, es muss ihr wirklich dreckig gegangen sein.«
    Mum inspiziert immer noch meine Klamotten. »Das Hemd ist egal, davon hast du genug, und ich glaube, die Flecken aus der Jacke gehen auch wieder raus, wenn wir sie gleich in die Wäsche stecken   – zum Glück ist sie schwarz   –, aber der Schlips ist hinüber.« Sie hält ihn hoch. Die graublauen Streifen sind mit dunkelbraunen Flecken übersät. »Wir kaufen morgen einen neuen. Meinetwegen kannst du einen Tag blaumachen, um dich von dem Schreck zu erholen. Dann kannst du mir ausführlich erzählen, was passiert ist.«
    Ich nicke und sage: »Ja«, und ducke mich weg, als sie mir einen Kuss geben will. Zum Glück liegt noch eine Schlaftablette auf meinem Nachttisch, da bleiben mir wenigstens die Albträume erspart.
     
    Trotzdem stehe ich so früh wie immer auf und mache mich für mein Training in der Halle fertig. Ich will niemandem einen Grund dafür geben, mir die Zugangskarte wegzunehmen. Außerdem habe ich keine Lust, herauszufinden, ob Alistair immer noch da ist und uns Frühstück macht, und auf ein Gespräch unter vier Augen |315| mit Mum habe ich auch keinen Bock. Ich glaube, ich gehe einfach zur Schule, dann schaue ich im Krankenhaus vorbei, und wenn ich Glück habe, ist Mum am Abend wieder mit Alistair unterwegs. Dann merkt sie vielleicht nicht mal, dass ich mich um das Gespräch gedrückt habe.
    Die Jacke sieht prima aus, ich habe ein sauberes Hemd an, aber der Schlips geht gar nicht. Ich krame den Schlüssel zum Fundsachenschrank hervor, denn dort liegen massenhaft ungekennzeichnete Krawatten drin. Ich suche mir eine aus und gehe mich umziehen. Jetzt kann niemand mehr sehen, was gestern vorgefallen ist.
    Carl und ich trainieren ausgiebig. Wir spornen einander an und setzen uns Ziele, die uns immer noch ein bisschen mehr fordern. Sieht ganz so aus, als würde dieses Wiedergutmachungs-Ding funktionieren. Wenn man bedenkt, was gestern alles los war, geht es mir eigentlich ganz gut. Wenn ich dran denke, wie Ellie meinte, dass ich Claire womöglich das Leben gerettet habe, bin ich sogar ziemlich zufrieden mit mir. Wenn man jemandem das Leben rettet, wiegt das doch bestimmt eine Menge anderer übler Geschichten auf, oder? Eigentlich kann ich dann gar kein so schlechter Mensch sein   – manchmal bin ich sogar richtig gut.
    Das gute Gefühl hält bis zur Anwesenheitskontrolle an. Ich bin pünktlich zur Stelle, ordentlich gekleidet und für den Tag bereit. Ich rede mit Brian über unser Fußballspiel und suche meine Französischsachen zusammen. Ashley ignoriert mich und niemand erkundigt sich nach |316| Claire. Sie wissen nichts. Vielleicht erfahren sie es ja nie. Das hoffe ich jedenfalls, denn Claire wäre es bestimmt schrecklich peinlich, wenn auch noch darüber getratscht würde. Mir wird kurz richtig schlecht, als ich daran denke, wie es für sie wäre, wenn diese zickigen Mädchen alle wüssten, dass sie sich ritzt.
    Dann kommt Mr Hunt rein, schaut sich um und sagt: »Joe Andrews, Ashley Jenkins   – sofort zum Schulleiter.«
    Wir gehen gemeinsam aber schweigend zum Direktorat. Ashley sieht beunruhigt aus, nachdenklich. Ich wüsste nichts, was ich mir

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