Mehr als nur ein Zeuge
gesagt: auf dem leeren Schulhof, umgeben von fünfzig mit Schülern vollgestopften Klassenzimmern.
»Komm schon, wir haben Sport!«, rufe ich.
Ich dachte, sie weint vielleicht, aber sie weint nicht. Ihr Gesicht ist kreideweiß, sie drückt die Faust auf den Mund. Sie blickt gehetzt um sich, wie eine Maus, die von einer Katze in die Ecke gedrängt wurde und keinen Ausweg mehr sieht. »Geh – weg!« Es soll wütend klingen, aber sie kriegt zwischen den beiden Wörtern einen Schluckauf, sodass es doch wie Schluchzen klingt.
»Ich geh aber nicht weg. Weißt du was? Ich bringe dich zur Schulschwester. Aber erst müssen wir rein.« Ich deute mit dem Kinn auf die Fenster, packe Claire am Ellbogen und ziehe sie zur Tür.
|304| Sie jault leise auf. Dann lässt sie sich abführen und ich sehe die Tränen kommen, also krame ich in meinen Hosentaschen nach einem Taschentuch, aber natürlich habe ich keins dabei. Ritterlich biete ich ihr meine Krawatte an. Sie schüttelt den Kopf und zieht ein Papiertaschentuch aus ihrer Strickjackentasche.
Eine Lehrerin kommt auf den Flur und fragt, was wir dort noch zu suchen haben. »Claire geht’s nicht gut, deswegen bring ich sie ins Krankenzimmer«, sage ich.
»Weißt du überhaupt, wo das ist? Hier geht es jedenfalls nicht lang.« Die Lehrerin mustert Claire neugierig.
»Ja, ich weiß schon.« Wir gehen weiter durch den Flur bis zur Treppe. Das Krankenzimmer befindet sich im ersten Stock.
»Jetzt hör doch mal: Alles ist in Ordnung«, sage ich, als wir davorstehen. »Ashley hat sich bloß als absolute Zicke geoutet. Niemand weiß etwas über dich. Du musst dir überhaupt keine Sorgen machen.«
»Ich …« Aber mehr kriegt sie nicht raus.
Ich klopfe und sage der Schwester, dass Claire Migräne hat. Sie schaut sie kurz an und legt ihr den Arm um die Schultern. »Ich hol dich später ab«, sage ich. »Hoffentlich geht’s dir dann besser.«
Ich sprinte rüber zum Sporttrakt. Eigentlich haben wir Schwimmen, aber ich muss ja mit Carl die versifften Fundsachen sortieren. Er steht bereits knietief in uralten Unterhosen und verkrusteten Shorts.
»Scheiße, Mann«, sagt er, »was war das denn eben auf |305| dem Schulhof? Ich dachte schon, du prügelst dich gleich mit ihr.«
»Hä? Du konntest uns von hier doch gar nicht sehen.«
»Mann, die ganze Schule hat euch gesehen. Wir sind alle zu spät zu Sport gekommen. Also: Was war los?«
»Weiber!«, sage ich. »Du weißt ja, wie die sind.«
»Allerdings!«, erwidert Carl, und wir sortieren die Klamotten in gekennzeichnete und nicht gekennzeichnete und unterhalten uns dabei über die Aussichten von Manchester United in der nächsten Saison, was offen gestanden genau das Gespräch ist, das ich im Augenblick brauche. Als die Stunde um ist, kommt es mir vor, als sei Carl mein bester Kumpel.
Ich will einen schnellen Abgang machen, aber sie warten schon alle auf mich: Lauren, Emily, Dani und Becca – nur Ashley ist nirgends zu sehen.
»Was ist passiert?«, fragt Becca. »Was ist mit Claire los? Was habt ihr auf dem Schulhof gemacht? Hat sie … hat sie einen Nervenzusammenbruch oder so was?«
Ich zucke die Achseln. »Ihr war nicht gut. Sie musste ins Krankenzimmer. Ein Migräneanfall.«
»Schon, aber worum ging es überhaupt?«, will Becca wissen. »Warum hast du sie angebrüllt?«
»Du gehst doch nicht mit ihr, oder?«, fragt Lauren. Ihr Tonfall drückt aus, dass man schon äußerst schräg drauf sein muss, wen man auch nur ansatzweise was mit Claire zu tun haben will.
»Vielleicht ist sie ja in dich verknallt?«, meint Dani.
»Und was war mit Ashley los?«, erkundigt sich Emily.
|306| »Also echt, woher soll ich wissen, was in Ashley vorgeht? Erst macht sie Schluss mit mir, und jetzt zickt sie rum, weil ich mit Claire befreundet bin.«
»Befreundet?«, wiederholt Emily ungläubig.
»Ganz genau – befreundet! Ihre Schwester Ellie trainiert mich beim Laufen und deshalb kenne ich die ganze Familie.«
»Ja schon, aber
Claire
…«
Hoffentlich werde ich jetzt nicht rot. »Claire ist total in Ordnung. Sie ist bloß ein bisschen schüchtern.«
Sobald ich sie losgeworden bin, laufe ich wieder zum Krankenzimmer. Aber Claire ist nicht da. »Sie ist vor fünf Minuten weg«, sagt die Schwester. »Dabei wäre es wirklich besser gewesen, jemand hätte sie nach Hause begleitet. Sie war ziemlich aufgelöst.«
»Haben Sie ihre Mutter nicht angerufen?«
»Die ist arbeiten. Claire meinte, es sei in Ordnung, sie könne allein
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