Mehr als nur Traeume
eine von den Pillen, die sie verschenkt hatte, fehlte. Ihre Zahnpastatube war ebenfalls prall gefüllt. Keine von ihren Kapseln gegen Grippe fehlte, keine Seite aus ihrem Notizblock. Alles war wieder so, wie es einst gewesen war.
Sie hob ihre Tasche vom Boden auf, schob das Tragband über die Schulter und drehte sich abermals dem Ausgang zu. Aber dann hielt sie abrupt inne, machte wieder auf den Absätzen kehrt und blickte auf die Grabplatte der Gruft. Etwas war da anders. Sie war zunächst nicht sicher, was, aber etwas hatte sich an der Gruft verändert.
Sie blickte zum Fuß der Grabplatte, vermied es sorgfältig, die Skulptur von Nicholas auf der Gruft zu betrachten .. .
»Stimmt etwas nicht?« fragte der Vikar.
Dougless las die Inschrift zweimal, ehe sie begriff, was daran anders war.
»Das Datum«, flüsterte sie.
»Das Datum? Ach ja, das Grab ist ziemlich alt.«
Das Todesjahr von Nicholas war 1599. Nicht 1564. Sie bückte sich und fuhr mit den Fingerspitzen die Zahlen nach, um sicherzugehen, daß sie richtig sah. Fünfunddreißig Jahre. Er hatte fünfunddreißig Jahre über die Zeit hinaus gelebt, zu der er angeblich hingerichtet worden war.
Erst als sie die Jahreszahlen mit den Fingern berührt hatte, richtete sie den Blick auf die Skulptur der Grabplatte. Sie zeigte zwar immer noch ihren Nicholas, aber ganz anders als beim letzten Mal. Das war nicht die Darstellung eines jungen Mannes, der in der Blüte seiner Jahre gestorben war, sondern die eines älteren Menschen, der sein Leben hatte ausleben können.
Sie blickte auf ihn hinunter und bemerkte, daß auch seine Kleider anders waren, — daß Nicholas mit den längeren Kniehosen des Jahres 1599 bekleidet war, statt mit den kurzen Ballonhosen, wie sie dreißig Jahre früher in Mode gewesen waren. Sie strich ihm liebevoll über die kalten Wangen, fuhr mit dem Finger die Falten nach, die der Bildhauer an den Mundwinkeln eingemeißelt hatte. »Wir haben es geschafft«, flüsterte sie. »Nicholas, Liebster, wir haben es geschafft.«
»Wie bitte?« sagte der Vikar.
Dougless blickte zu ihm hoch und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. »Wir haben die Geschichte verändert«, sagte sie, und immer noch lächelnd, ging sie aus der Kirche hinaus in die Sonne.
Sie stand einen Moment auf dem Kirchhof und fand sich nicht zurecht. Die Grabsteine waren so alt, aber vor ihr brauste ein Auto vorbei. Dougless holte erschrocken Luft, als sie zum erstenmal wieder ein Auto sah. Als sie Luft holte, spürte sie, wie ihre Lungen sich ausdehnten. Einen Moment lang hatte sie das eigenartige Gefühl, als wäre die Welt verkehrt. Sie fühlte sich nackt und erbärmlich in ihren schmucklosen Kleidern. Sie blickte voller Abscheu auf ihre Bluse und ihren unansehnlichen Rock hinunter. Ihr Rücken fühlte sich so an, als habe er keine Stütze mehr, nachdem ihr das Korsett abhanden gekommen war, und ihre Lederstiefel kniffen sie in die Füße und Waden.
Wieder kam ein Auto vorbei, und die Geschwindigkeit, mit dem es am Friedhof vorbeizog, machte sie schwindlig. Sie ging zum Tor, öffnete es und trat auf den Bürgersteig hinaus. Wie seltsam sich doch dieser harte Beton unter den Füßen anfühlte! Als sie den Bürgersteig hinunterging, betrachtete sie voller Ehrfurcht die Häuser. Riesige Flächen aus Glas, Ladenschilder mit Schriften darauf - wer konnte das lesen? Sie dachte an die Leute in der Zeit, in der sie gewesen war und in der nur wenige des Lesens kundig waren, und daß sie Ladenschilder mit Bildern angezeigt hatten, was es in ihrem Laden zu kaufen gab.
Aber wie sauber hier doch alles war, dachte sie bei sich. Kein zäher Schlamm, kein Unrat aus Nachtschüsseln, keine Küchenabfälle und keine Schweine, die im Dreck wühlten. Und die Leute auf den Straßen sahen ebenfalls sonderbar aus: Sie trugen alle die gleiche eintönige Kleidung wie sie. Offenbar hatten sie auch alle den gleichen Rang. Und nirgends ein Bettler in schmutzigen Lumpen, aber auch keine Damen mit perlenbestickten Röcken.
Dougless wanderte langsam die Straße hinunter und blickte mit großen Augen um sich, als erlebte sie das zwanzigste Jahrhundert zum erstenmal. Dann drang der Geruch von Essen zu ihr, so daß sie sich umdrehte und unter die Tür einer Gaststätte trat. Sie blickte in den Raum hinein, der offenbar eine Nachbildung einer Taverne aus elizabethanischer Zeit sein sollte. Aber da fehlte es weit: Sie war zu sauber, zu still, zu . .. einsam, dachte sie hei sich. Die Leute, die an den Tischen
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