Mehr als nur Traeume
sehr still, als sie zusammen zur Praxis des Dentisten gingen, und im Wartezimmer mochte er nicht einmal die mit Plastik bezogenen Stühle betrachten. Dougless wußte, daß er wirklich besorgt war, da er sich auch nicht für die Zimmerpflanze aus Plastik interessierte, die sie ihm zeigte. Als die Sprechstundenhilfe ihn aufrief, drückte Dougless ihm die Hand. »Sie brauchen wirklich keine Angst zu haben. Danach werde ich . . . ich Sie ausführen und Ihnen eine Eiskrem spendieren. Das ist etwas, worauf sie sich freuen können.« Es war ihr klar, daß er sich unter dem Namen Eiskrem nichts vorstellen - oder sich nicht mehr daran erinnern konnte, was Eiskrem war, verbesserte sie sich.
Da sie ihn für eine komplette Zahnuntersuchung angemeldet hatte und er mindestens eine Kariesbehandlung benötigte, wußte sie, daß er eine Weile im Behandlungszimmer sein würde, und deshalb bat sie die Sprechstundenhilfe, sie in der Bibliothek anzurufen, wenn seine Behandlung fast abgeschlossen war.
Als sie zur Bibliothek ging, hatte sie ein Gefühl, wie eine Mutter es haben mußte, die ein Kind allein beim Arzt zurückläßt. »Es ist doch nur der Zahnarzt«, sagte sie sich.
Die Bibliothek war bescheiden, vor allem auf den Besuch von Kindern eingerichtet und auf Erwachsene, die populäre Unterhaltungsliteratur bevorzugten. Dougless setzte sich auf einen Schemel in der Abteilung für Reisebücher und begann nach Hinweisen auf die elf Landsitze zu suchen, die Nicholas angeblich besessen hatte. Vier davon waren heute Ruinen, zwei davon waren in den fünfziger Jahren abgerissen worden (es machte sie krank, daran zu denken, daß sie so lange dem Zahn der Zeit widerstanden hatten und erst vor kurzem niedergerissen worden waren), einer war das ihr bereits bekannte Thornwyck, einen konnte sie nicht finden, zwei waren inzwischen in Privatbesitz und einer für die Besichtigung durch die Öffentlichkeit freigegeben. Sie notierte sich die Öffnungszeiten des Landsitzes für Besucher - die Wochentage und die Stunden - und blickte dann auf ihre Armbanduhr. Nicholas weilte inzwischen schon anderthalb Stunden beim Zahnarzt.
Sie suchte im Schlagwortkatalog, konnte aber keinen Hinweis auf die Familie Stafford finden. So verging noch eine Dreiviertelstunde.
Als das Telefon auf dem Tisch der Bibliothekarin läutete, schrak sie zusammen. Die Bibliothekarin sagte, die Sprechstundenhilfe ließe ihr ausrichten, daß der Patient Stafford fast fertig sei. Dougless eilte - rannte förmlich - in die Praxis zurück.
Der Zahnarzt kam aus dem Behandlungszimmer, um sie persönlich zu begrüßen und in sein Büro zu bitten. »Mr. Stafford gibt mir Rätsel auf«, sagte er und hing die Röntgenaufnahmen von Nicholas’ Kiefer an einen beleuchteten Wandschirm. »Ich mache es mir zur Regel, nie die Arbeit eines Kollegen zu bewerten; aber wie Sie hier sehen können, ist Mr. Staffords bisherige Zahnbehandlung. .. nun, ich kann sie nur als brutal bezeichnen. Die drei Zähne, die extrahiert wurden, müssen ihm buchstäblich aus dem Mund herausgerissen worden sein. Sehen Sie — hier und hier ist der Kieferknochen gebrochen und schief zusammengewachsen. Es muß eine extrem schmerzhafte Behandlung gewesen sein. Und außerdem - ich weiß, daß das eigentlich unmöglich ist -habe ich tatsächlich das Gefühl, daß Mr. Stafford noch nie zuvor eine Betäubungsspritze gesehen hat. Vielleicht hat man ihn bewußtlos geschlagen, ehe man ihm die Zähne entfernte.«
Der Arzt schaltete die Beleuchtung des Wandschirms ab. »Natürlich mußte er bewußtlos gewesen sein. Heutzutage können wir uns nicht mehr vorstellen, was für Schmerzen ihm diese Extraktionen, wie wir sie auf dem Röntgenbild gesehen haben, bereitet haben müssen.«
»Aber vor vierhundert Jahren war so etwas möglich?«
Der Zahnarzt lachte. »Vor vierhundert Jahren hatte wohl jeder solche Extraktionen über sich ergehen lassen müssen, könnte ich mir denken - aber ohne Betäubungsspritzen und schmerzlindernde Mittel nach der Behandlung.«
»Wie sehen sonst seine Zähne aus? Wie war er als Patient?«
»Hervorragend in beiderlei Beziehung. Sehr entspannt im Behandlungsstuhl, lachte, als ich ihn fragte, ob ihm das Bohren weh getan habe. Ich habe eine Kariesbehandlung durchgeführt und die anderen Zähne überprüft.« Der Arzt sah einen Moment wieder etwas ratlos aus. »Er hat an einigen Zähnen eine leichte Furchenbildung. Ich habe so etwas bisher nur in Lehrbüchern gesehen, und solche Furchenbildungen bedeuten
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