Mehr als nur Traeume
während der Fahrt hörte sie auf, sich ihre Fehler vorzuwerfen, und überlegte, was nun getan werden konnte. Würde die Veröffentlichung von Lees Buch helfen, Nicholas’ Namen reinzuwaschen? Wenn sie sich als Sekretärin anbieten und ihm bei seinen Recherchen helfen würde, konnte sie vielleicht ein wenig den Schaden gutmachen, den sie Nicholas im zwanzigsten Jahrhundert angetan hatte, indem sie ihm die Hilfe versagte, die er so nötig brauchte.
Sie lehnte den Kopf gegen das Abteilfenster. Wenn sie nun eine zweite Chance bekäme, würde sie nicht mehr eifersüchtig sein und nicht mehr die kostbare Zeit ihres Beisammenseins sinnlos vergeuden. Warum hatte sie, als sie in Goshawk Hall waren, Lee nicht gefragt, ob es nicht noch mehr Verstecke in den Wänden des alten Hauses gab? Warum hatte sie nicht selbst nachgesehen? Warum hatte sie nicht...
Das Stationsschild von Ashburton erschien vor dem Fenster, und sie verließ den Zug. Als sie zur Sperre ging, wurde ihr bewußt, daß sie gar nichts tun konnte. Die Zeit, wo sie ihm helfen konnte, war vorbei. Lee konnte sein Buch auch allein schreiben, und sie wußte, daß er gute Arbeit leisten würde. Robert hatte seine Tochter und brauchte sie nicht. Nicholas war der Mann gewesen, der sie gebraucht hatte, und sie hatte ihn enttäuscht.
Nun blieb ihr nichts anderes mehr übrig, als nach Hause zu fliegen.
Sie verließ den Bahnhof und ging in die Richtung ihres Hotels. Sie würde ihre Fluggesellschaft anrufen und fragen, ob sie noch einen Platz in der nächsten Maschine frei hatten.
Vielleicht würde sie zu Hause, in der ihr vertrauten Umgebung, anfangen, sich selbst zu vergeben.
Auf dem Weg zum Hotel kam sie an der Kirche vorbei, in der sich Nicholas’ Gruft befand, und als hätten ihre Beine einen eigenen Willen, lenkte sie ihre Schritte zum Friedhofstor. Die Kirche war leer. Die Sonne flutete durch die bemalten Kirchenfenster und spendete seiner Grabplatte etwas Licht. Das blasse Weiß des Marmors sah kalt und tot aus.
Langsam ging Dougless auf die Gruft zu. Vielleicht würde Nicholas wieder in diese Zeit zurückkommen, wenn sie betete. Wenn sie Gott darum bat, ließ er Nicholas vielleicht zu ihr zurückkommen. Nur fünf Minuten lang. Das genügte, um ihm die Geschichte vom Verrat seiner Frau erzählen zu können.
Aber als sie die kalte Marmorwange der Grabplatte berührte, wußte sie, daß das nicht funktionieren würde. Was da passiert war, geschah nur einmal. Man hatte ihr die Chance gegeben, das Leben eines Mannes zu retten, und sie hatte sie vertan.
»Nicholas«, flüsterte sie, und zum erstenmal, seit er von ihr gegangen war, flossen ihre Tränen. Heiße, dicke Tränen, die ihren Blick trübten.
»Ich habe wieder Zwiebelaugen«, sagte sie, fast lächelnd. »Es tut mir leid, daß ich dich enttäuscht habe, mein geliebter Nicholas. Ich scheine offenbar immer nur zu versagen. Nur mußte bisher niemand wegen meiner Fehler sterben.
»O Gott«, flüsterte sie, drehte sich um und setzte sich auf den Rand der Grabplatte. »Wie soll ich nur weiterleben, wo nun dein Blut an meinen Händen klebt?«
Sie zog den Reißverschluß ihrer Tasche auf, die noch am Riemen über ihrer Schulter hing, und kramte darin nach einem Papiertaschentuch. Sie nahm den Karton heraus und entnahm ihm ein Tuch aus Seidenpapier. Als sie sich die Nase schneuzte, sah sie, wie ein Blatt Papier aus dem Karton herausfiel. Sie bückte sich, hob es auf und betrachtete es.
Es war die Nachricht, die Nicholas für sie geschrieben und unter der Tür durchgeschoben hatte.
»Die Nachricht«, sagte sie laut und richtete sich kerzengerade auf. Es war diese Botschaft in Nicholas’ Handschrift! Es war etwas, das er berührt, etwas, das . .. das ein Beweis war, dachte sie bei sich.
»O Nicholas«, sagte sie, und nun begannen die Tränen erst richtig zu strömen - heiße Tränen tiefster Reue. Ihre Beine gaben nach, und sie glitt langsam auf den Steinboden hin, seine Botschaft an ihre Wange drückend. »Es tut mir so leid, Nicholas«, schluchzte sie. »So, so bitter leid, daß ich dich enttäuscht habe.«
Sie legte die Stirn auf das kalte Marmorgrab, ihren Körper zu einem Ball zusammenrollend. »Gott«, flüsterte sie, »hilf mir, daß ich mir selbst verzeihen kann.«
In ihrem Schmerz erkannte Dougless nicht, wie das Licht, das durch das Fenster sickerte, ihr Haar berührte. Die bemalten Butzenscheiben stellten einen knienden und betenden Engel dar, und das Licht, das Dougless’ Haar berührte, kam
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