Mehr Stadtgeschichten
vor, als hätte ich mir die ganze Geschichte bloß ausgedacht.«
Michael lachte. »Könnte ja sein. Ich hab mir zum Beispiel heute vormittag alte Schulbücher aus dem Literaturunterricht angesehen – du weißt schon, Silas Marner und Der große Gatsby und solches Zeug –, und dabei hab ich mich fast gekugelt vor Lachen, weil ich auf jeder zweiten Seite ›Symbolik!‹ an den Rand geschrieben hatte. Stell dir das mal vor! Im Großen Gatsby hatte ich das Wort ›gelb‹ überall angestrichen, wo es auftauchte.«
»O Gott!« sagte Mary Ann lächelnd. »Ich erinnere mich an diese schrecklichen Klassenarbeiten. Aber ich versteh nicht, Mouse – was soll das mit unserem Fall zu tun haben?«
»Na, vielleicht suchen wir auch zuviel nach Symbolik. Nicht alles muß auch was bedeuten.«
»Ja, aber es wäre schön, wenn irgendwas mal eine Bedeutung hätte.«
»Was ist mit dieser Transsub … wie immer das auch heißt?«
»Was soll damit sein?«
»Na, zunächst mal: Ist Burke katholisch?«
Mary Ann schüttelte den Kopf. »Episkopalisch.«
»Das ist ja nahe dran.«
»Ja?«
Michael nickte. »Die Hochkirchen sind noch katholischer als die Katholiken. Glaub mir, ich kenn mich da aus. Ich hatte mal einen Freund, der war Seminarist der episkopalischen Hochkirche. Es hat nicht viel gefehlt, und er hätte sich auch noch rasiert mit Weihwasser. Er hat garantiert daran geglaubt, daß sich Brot und Wein in den Leib und das Blut Christi verwandeln.«
Mary Ann schüttelte es ein bißchen. »Daran glauben die? Im wörtlichen Sinn?«
»Im wörtlichen Sinn. Du hast die Definition ja gelesen, Babycakes.«
»Ich weiß, aber das ist doch etwas abartig, findest du nicht?«
Michael zuckte mit den Schultern. »Die Christen sind auf der ganzen Welt die einzigen, die vor einem Folterinstrument niederknien. Wenn Christus erst in diesem Jahrhundert den Märtyrertod gestorben wäre, würden wir wahrscheinlich alle kleine elektrische Stühle um den Hals tragen.«
Mary Ann war schockiert. »Mouse, das ist ja Gotteslästerung!«
»Ist es nicht. Sondern eine Feststellung zum Wesen der …« Plötzlich krampften sich Michaels Hände um die Armlehnen seines Rollstuhls, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck höchster Konzentration. »Mensch!« rief er. »Menschenskind! «
»Um Himmels willen, Mouse, was ist denn?«
»Der geheiligte Stein! Der doofe geheiligte Stein! Das ist Grace Cathedral, es muß Grace Cathedral sein!«
»Grace Cathedral?«
»Was sonst? Sie ist gleich neben dem PU Club, Mary Ann! Auf dem Berg der Flut am Kreuzungspunkt der Linien! Und rate mal, was die inkarnierte Rose ist.«
»Was?«
»Die größte Rose in der ganzen Stadt! Die Fensterrose der Grace Cathedral!«
Liebesdienste
D’orothea Wilson machte in der Halle des St. Sebastian’s Hospital kurz halt, um ein altes Gemälde zu betrachten, das den Namensgeber der Einrichtung zeigte.
Der Heilige war an einen Baum gefesselt. Er trug nur einen Lendenschurz und hatte ein seliges Lächeln im Gesicht. Sein blutüberströmter Körper war mit Pfeilen gespickt. Mit mindestens einem halben Dutzend.
D’orothea verzog das Gesicht und erregte damit die Aufmerksamkeit einer vorbeikommenden Krankenschwester. »Ich weiß«, sagte die Krankenschwester mit angeekelter Miene. »Ist es nicht furchtbar?«
»Warum hängt man so etwas überhaupt auf? Noch dazu in einem Krankenhaus!«
Die Krankenschwester lächelte matt. »Der Verwaltungsrat streitet jedes Jahr darüber. Ich glaube, es war Bestandteil einer großen Stiftung oder so. Und niemand möchte die Alte vergraulen, die es gespendet hat. Man hat es schon zwei- oder dreimal umgehängt. Hier fällt es noch am wenigsten auf.«
»Es sollte sich mal nachts jemand mit einer Dose Lackspray drüber hermachen«, schlug D’orothea vor.
»Nur zu!« meinte die Krankenschwester.
Nachdem sie sich am Empfangstresen nach DeDes Zimmer erkundigt hatte, schaute D’orothea noch rasch im Blumenladen des Krankenhauses vorbei und kaufte ein Dutzend Rosen. Dann hastete sie in den ersten Stock, um ihre Freundin zu besuchen.
»Du kannst nicht lange bleiben«, sagte DeDe grinsend. »Meine Mutter hat man gerade rausgescheucht.«
»Ich geh auch bald wieder.« D’orothea legte die Rosen auf den Nachttisch, beugte sich über DeDe und küßte sie auf die Wange. »Du siehst toll aus, mein Schatz.«
»Danke. Und schönen Dank für die Rosen.«
»Wie geht’s der Trommel?«
DeDe verdrehte die Augen. »Sie macht bum-bum, bum-bum.«
»Du
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