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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Zwischengeschoss war ein eigenartig befriedigendes Unterfangen. Es war, als flaniere man über das Deck eines Schiffes, aber insofern interessanter, als man statt leerem Wasser die wuselige Welt des Männereinzelhandels betrachten, Gespräche belauschen und den Leuten auf die Köpfe schauen konnte. Ohne irgendein Risiko genoss man alle Freuden des Spionierens. Da focht es einen nicht an, wenn der Vater ewig brauchte, um sich ein Jackett anpassen zu lassen oder den Verkaufskräften eifrig isometrische Muskelübungen zeigte.
    »Kein Problem«, rief man großzügig von seiner erhabenen Position hinab. »Ich dreh noch eine Runde.«
    In puncto gehobener Unterhaltung sogar noch besser war das Shops Building in der Walnut Street. In dem hübschen, etwa sieben, acht Etagen hohen, alten, in maurisch angehauchtem Stil erbauten Bürogebäude gab es im Foyer im Erdgeschoss ein beliebtes Café mit einem zentralen Innenhof, der sich bis weit oben zu einer entfernten Decke erhob und um den der Treppenaufgang und die gallerieartigen Korridore des Gebäudes verliefen. Jeder kleine Junge träumte davon, über diesen Treppenaufgang ins oberste Stockwerk zu gelangen.
    Doch schon um ihn zu erreichen, bedurfte es eines geschickten, gut getimten Sprints, denn man musste an der Caféchefin vorbei, einer bösartigen, scharfäugigen Tucke mit Namen Mrs. Musgrove, die kleine Jungs hasste (mit gutem Grund, wie wir sehen werden). Wenn man allerdings den rechten Moment abpasste und sie abgelenkt war, konnte man zur Treppe und dann hinauf zu den dunklen unheimlichen Höhen des obersten Stockwerks flitzen, wo man auf die Speisegäste weit unten einen Blick wie durch einen Kanonenlauf hatte. Wenn man darüber hinaus noch irgendein hartes Bonbon bei sich trug – Erdnuss-M&Ms waren wegen ihrer glatten, aerodynamisch günstigen Form besonders beliebt –, konnte man es sieben, acht Stockwerke hinunterfallen lassen. Und eins kann ich Ihnen sagen, ein Erdnuss-M&M, das fast dreißig Meter tief in einen Teller Tomatensuppe fällt, verursacht einen gigantischen Spritzer.
    Man hatte nie mehr als einen Versuch, denn auch eine Bombe, die ihr Ziel verfehlte, auf dem Tisch aufprallte – was beinahe immer der Fall war – und zur wunderbaren Verblüffung der am Tisch Sitzenden spektakulär in Tausende zuckerglasierte Scherben zerbarst, rief Mrs. Musgrove zu den Waffen. Sie flog die Treppe nicht minder schnell hinauf, als das M&M hinuntergeflogen war, und ließ uns weniger als fünf Sekunden, aus einem Fenster auf die Feuerleiter zu klettern – und von da in die Freiheit.
    Des Moines’ großartigstes Handelsunternehmen war Younker Brothers, das größte Kaufhaus im Stadtzentrum. Younkers war riesig. Es befand sich in zwei Gebäuden, die im Erdgeschoss durch einen öffentlichen Durchgang getrennt waren, und war damit das einzige Kaufhaus, das ich kenne, möglicherweise das einzige, das es je gab, in dem man überfahren werden konnte, wenn man von der Herrenbekleidung zur Kosmetikabteilung ging. Zusätzlich hatte es einen Außenposten auf der anderen Straßenseite, der Store for Homes hieß und in dem sich die Möbelabteilung befand, die man durch einen unterirdischen Gang unter der Eighth Street über die Bettwäscheabteilung erreichte. Ich habe keine Ahnung, warum, aber es war unendlich befriedigend, von der Ostseite der Eighth zu Younkers hineinzugehen und eine kurze Weile später auf der Westseite wieder aufzutauchen – und die Einkäufe hatte man auch erledigt. Es kamen Leute selbst aus anderen Bundesstaaten angereist, nur um durch diesen Gang zu gehen, auf der anderen Straßenseite wieder herauszukommen und zu sagen: »Alle Wetter! Das is’n Ding!«
    Younkers war der eleganteste, allermodernste, bestorganisierte, großstädtischste Ort in Iowa. Wunderbar. 1200 Menschen waren dort angestellt. Es gab die ersten Rolltreppen im Bundesstaat – in den Anfangsjahren hießen sie noch »elektrische Treppen« – und die erste Klimaanlage. Alles an Younkers – seine seidenweich flott rotierenden Drehtüren, seine gleitenden Treppen, seine leise surrenden Aufzüge, jeder mit einem Aufzugführer mit weißen Handschuhen – schien erdacht, einen hineinzulocken, auf dass man glücklich und zufrieden bis an sein Lebensende konsumierte. Younkers war so groß und herrlich weitläufig, dass man selten jemanden traf, der es ganz kannte. Die Buchabteilung befand sich auf einer dämmrigen, im Verborgenen liegenden Galerie, zu der man über eine winzige Treppe gelangte. Sie

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