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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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Doctor , sagt in der Septemberausgabe: »Jungen scheinen instinktiv eine grundlegende dermatologische Wahrheit zu kennen – dass nämlich Schmutz einen wesentlichen Beitrag zur Erhaltung der Hautgesundheit leistet. Diese natürliche Schutzschicht sollte durch Waschen nicht zu häufig zerstört werden.«

Des Moines Register , 28. August 1958

    Bild 3
    W ie gesagt, handelt dieses Buch eigentlich nicht von sehr viel: Es handelt davon, klein zu sein und langsam größer zu werden. Einer der großen Mythen des Lebens ist, dass die Kindheit schnell vergeht. In Wirklichkeit vergeht die Zeit in der Welt des Kindes langsamer – fünfmal langsamer in einem Klassenzimmer an einem heißen Nachmittag, achtmal langsamer auf einer über sieben Kilometer langen Autofahrt (bis zu 86-mal langsamer, wenn man einmal quer durch Nebraska oder Pennsylvania fährt), und während der letzten Woche vor Geburtstagen, Weihnachten und den Sommerferien vergeht die Zeit sogar so langsam, dass sie praktisch gar nicht mehr messbar ist. Die Kindheit dauert Jahrzehnte. Das Erwachsenenleben dagegen, das ist im Handumdrehen vorbei!
    Am allerlangsamsten verging für mich die Zeit, wenn ich auf dem großen, rissigen Zahnarztlederstuhl von Dr. D. K. Brewster saß und darauf wartete, dass unser schauriger, totenbleicher Zahnarzt seine Instrumente zusammensuchte und mit der Arbeit begann. Da verging die Zeit überhaupt nicht. Sie hing nur da.
    Dr. Brewster war der grauenerregendste Zahnarzt der Vereinigten Staaten. Zum einen war er bestimmt 108 Jahre alt, und seine zittrigen Hände verrieten mehr als eine beginnende Parkinsonerkrankung. Nichts an ihm war vertrauenerweckend. Stets überrascht, wie machtvoll seine eigenen Gerätschaften waren, sagte er immer »Alle Achtung!«, wenn er kurz das eine oder andere kreischende Instrument in Schwung brachte. »Ich wette, mit dem Ding kann man ganz schönen Schaden anrichten!«
    Schlimmer war, dass er nicht an Novokain glaubte. Er hielt es für gefährlich und seine Wirkung für nicht erwiesen. Und wenn Dr. Brewster, gedankenversunken vor sich hin summend, durch steinharten Backenzahn bohrte und die breiige Masse zarten Nervs darin fand, dann krachten einem die Zehen vorn durch die Schuhe.
    Wir waren offenbar seine einzigen Patienten. Ich fragte mich stets, warum uns mein Vater durch diesen regelmäßigen Alptraum jagte, doch dann hörte ich, wie Dr. Brewster ihm eines Tages zu seinem Mut und seiner Sparsamkeit gratulierte, und verstand es sofort, denn mein Vater war der größte Geizhals des 20. Jahrhunderts. »Sich der Gefahr von Novokain auszusetzen und obendrein Geld dafür auszugeben ist absolut sinnlos, wenn man sich nicht ganz oder teilweise den Unterkiefer entfernen lässt«, sagte Dr. Brewster.
    »Ganz meine Meinung«, erwiderte mein Vater. In Wirklichkeit sagte er eher »Gnnnmmmung«, denn er war gerade aus Dr. Brewsters Stuhl aufgestanden und würde mindestens drei Tage lang nur unverständliche Laute hervorbringen. Doch er nickte herzlich.
    »Ich wünschte, mehr Menschen dächten so wie Sie, Mr. Bryson«, sagte Dr. Brewster abschließend. »Das macht dann drei Dollar, bitte.«

    Samstage und Sonntage waren in der Welt des Kindes die längsten Tage. Je nach Jahreszeit konnte allein der Sonntagmorgen bis zu drei Monaten dauern. Da es in der Mitte Iowas bis weit in die fünfziger Jahre hinein sonntagmorgens kein Fernsehen gab, saß man gemeinhin mit einer Schüssel matschiger Cheerios vor der Glotze und guckte das Testbild, bis WOI-TV irgendwann zwischen fünf vor halb zwölf und zwölf sprotzend zum Leben erwachte – bei WOI nahmen sie es sonntags nicht so genau – und eine Episode von Sky King kam, in der Hauptrolle Kirby Grant mit adrettem Halstüchlein, »Amerikas beliebtester fliegender Cowboy« (und vermutlich der einzige fliegende Cowboy überhaupt). Sky war von Beruf Rancher, verbrachte aber einen Großteil seiner Zeit damit, in seiner geliebten Cessna The Songbird am Himmel Arizonas zu kreuzen und Rinderdiebe und andere Bösewichter drunten auf Erden zu erspähen. Bei diesen Bemühungen half ihm seine grübchenwangige Nichte Penny mit dem wohlgeformten Po, bei der viele von uns eine erste prickelnde Ahnung verspürten, dass wir auf dem Weg zu einer robusten Heterosexualität waren.
    Selbst mit sechs Jahren und selbst in einer intellektuell so anspruchslosen Dekade wie den 1950er Jahren musste man nicht übermäßig scharfsinnig sein, um zu sehen, dass ein fliegender Cowboy für eine Actionserie

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