Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
nicht viel hergibt. Sky fing nur Schurken, die am Rande grasbewachsener Landebahnen herumlungerten und gar nicht auf die Idee kamen wegzulaufen, bevor Sky gelandet, sicher ausgerollt, aus dem Cockpit geklettert war, eine amtliche Haltung eingenommen und geschrien hatte: »Okay, Jungs, keine Bewegung!« Und dieser Vorgang dauerte ein, zwei Minuten, denn Kirby Grant, muss man sagen, war nicht mehr in der Blüte seiner Jahre. Die Serie wurde nach einem Jahr abgesetzt, es wurden also nur etwa zwanzig Episoden gedreht, und die waren praktisch alle gleich. Aber sie wurden in meinem ersten Dutzend Lebensjahren und vermutlich noch geraume Zeit danach von WOI unermüdlich (und vermutlich kostengünstig) wiederholt. Für sie sprach wahrscheinlich einzig und allein, dass sie unterhaltsamer als ein Testbild waren.
Die damals schier endlosen Wochenenden waren allerdings sowohl gut als auch notwendig. Denn man hatte immer sehr viel zu tun. Einen ganzen Vormittag konnte man allein schon damit zubringen, die Schnürsenkel an den Turnschuhen zu binden, denn in den Fünfzigern hatten alle Turnschuhe über sieben Dutzend Ösen und drei Meter lange Schnürsenkel. Jeden Morgen, wenn man aus dem Bett sprang, entdeckte man, dass Letztere aus irgendeinem Grunde auf der einen Seite schon wieder einen Meter länger geworden waren als auf der anderen. Wie genau sie das machten, obwohl man die Turnschuhe doch nur über Nacht auf dem Flur gelassen hatte – diese Frage wurde nie beantwortet. Das Phänomen gehörte wie Nonnen und schlechtes Wetter zu den Dingen, mit denen einen das Leben in regelmäßigen Abständen konfrontierte. Man brauchte aber unerschöpfliche Reserven an Geduld und wissenschaftlichem Urteilsvermögen, die Schnürsenkel richtig zurechtzuziehen, denn einerlei, wie sorgfältig man sie in den Löchern hin und her manövrierte, sie kamen immer unterschiedlich lang heraus. Ja, je sorgfältiger man sie zog und schob, desto ungleicher wurden sie. Wenn man sie wundersamerweise doch endlich genau gleich lang hatte, riss der eine Teil, und man fing seufzend noch einmal von vorn an.
Die Produzenten von Turnschuhen versahen die Sohlen auch mit zahllosen Scharten, Kratern, Zickzacklinien, Labyrinthen, Kornkreisen und sonstigen sich durchs Gummi ziehenden geheimnisvollen Zeichen, so dass man, wenn man in einen Haufen frischer Hundescheiße trat (was, kaum war man drei Schritte aus dem Haus, mit Sicherheit passierte), einem zusätzlichen stundenlangen, spannenden Zeitvertreib frönen konnte, indem man die Sohlen, immer wieder würgend, doch eigenartig befriedigt, mit einem Stock sauber kratzte.
Außerdem konnte man an Wochenenden stundenlang Kletten von den Socken zupfen, Korken aus Flaschendeckeln pulen, an Eis am Stiel angefrorenes Einwickelpapier abzuppeln, Oreo-Kekse auseinandernehmen, ohne dass man die eine der beiden Keksscheiben oder die Füllung dazwischen beschädigte, und vollkommen sinnfrei sorgsam Etikette von Gläsern und Flaschen abkratzen.
In einer solchen Welt nahm man Verletzungen und andere körperliche Gebrechen gerne hin. Hatte man sich einen Splitter eingefangen, konnte man einen ganzen Nachmittag lang einen kleinen faszinierten Zuschauerkreis fesseln, indem man ausprobierte, wie weit man eine Nadel unter die Haut schieben konnte – eigentlich, wie man sich selbst operierte. Bei einem Sonnenbrand freute man sich schon auf den Moment, in dem man sich einen Flatschen durchsichtiger Epidermis, mehr oder weniger von der Größe des eigenen Körpers, abreißen konnte. In der Welt des Kindes züchtete man Wundschorf, wie ältere Menschen Orchideen züchteten. Ich kultivierte Krusten an den Knien bis zu vier Jahren; sie waren fünf Zentimeter dick und ich konnte Reißbrettstifte hineindrücken, ohne dass ich es spürte. Nasenbluten wurde natürlich sehr bewundert, und wer Nasenbluten hatte, wurde wie eine Berühmtheit behandelt, so lange das Blut floss.
Weil die Tage so lang waren und so wenig passierte, war man auf die geringe Chance hin, dass etwas Unterhaltsames geschah, bereit, ausgedehnte Zeitspannen aufs Sitzen und Beobachten zu verwenden. Jahrelang ließ ich alles stehen und liegen, wenn mein Vater verkündete, er fahre zum Holzhof, und ich könne mitkommen. Dort saß ich dann immer ganz still auf einem Hocker und hoffte, dass Moe, der Mann, der es mit der großen Kreissäge nach Maß zuschnitt, sich noch einen seiner wenigen verbliebenen Finger absäbelte. Da er sechs oder sieben Finger schon ganz oder teilweise
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