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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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verloren hatte, bestand stets Aussicht auf ein aufregendes Unglück.
    Damals waren die Busse in Des Moines Oberleitungsbusse und bezogen ihren Strom aus einem komplizierten Gewirr von Drahtleitungen, mit denen sie durch einen Metallarm verbunden waren. Wenn dieser Arm an den Leitungen entlangglitt, sprühten sie besonders bei feuchtem Wetter wie ein Feuerwerk bei einer mexikanischen Fiesta und demonstrierten anschaulich die mörderische Kraft elektrischen Stroms. Ab und an löste sich der Arm von den Leitungen, und dann musste der Fahrer aussteigen und ihn mit einer langen Stange wieder an seinen Platz bugsieren. Und dieses Ereignis beobachtete ich natürlich immer höchst interessiert, nachdem meine Schwester mir versichert hatte, dass der Mann sehr wohl einen tödlichen Stromschlag dabei erleiden könne.
    Lange Zeitspannen am Tage brachte man übrigens damit zu herauszufinden, was passieren würde – was passieren würde, wenn man den Kopf eines Streichholzes zusammendrückte, so lange er noch heiß war, wenn man einen ekeligen Trunk zubereitete und einen Schluck davon trank oder wenn man mit einem Vergrößerungsglas einen glühend heißen Sonnenstrahl auf Onkel Dicks kahle Stelle richtete, während er seinen Mittagsschlaf hielt. (In letzterem Fall passierte, dass man erstaunlich schnell ein tiefes Loch brannte, an dem Dick und ein Team von Fachärzten im Iowa Lutheran Hospital wochenlang herumrätselten.)
    Dank solcher Forschungstätigkeiten und dem Übermaß an Zeit, die sie ermöglichte, lernte ich in den ersten zehn Jahren meines Lebens bestimmt mehr als irgendwann später. Zunächst einmal wusste ich alles über unser Haus, was man wissen musste. Ich wusste, was auf den Unterseiten von Tischen geschrieben stand und wie der Blick von Bücher- und Wäscheschränken nach unten war. Ich wusste, was man ganz hinten in allen Schränken fand, unter welchen Betten die meisten Wollmäuse, an welchen Decken die interessantesten Flecken waren, und wo genau das Muster der Tapete sich zu wiederholen begann. Ich wusste, wie man jedes Zimmer durchqueren konnte, ohne den Boden zu berühren, wo mein Vater sein Kleingeld aufbewahrte und wie viel man nehmen konnte, ohne das Risiko einzugehen, dass er es merkte (ein Siebtel der Vierteldollarmünzen, ein Fünftel der Fünf- und Zehncentstücke und so viele Centstücke, wie man tragen konnte). Ich wusste, wie man sich in mehr als 100 Stellungen in einem Sessel ausruhen konnte und in weiteren 75 auf dem Boden dazu. Ich wusste, wie die Welt aussah, wenn man sie durch eine Wackelpeterlinse betrachtete. Ich wusste, wie Dinge schmeckten – feuchte Waschlappen, Bleistiftkappen, Münzen und Knöpfe, fast alles, was aus Plastik und kleiner war als beispielsweise ein Radiowecker, und natürlich Popel aller Art –, habe es aber heutzutage mehr oder weniger vergessen. Ich kannte, egal wo in unserem Haus (und hätte Sie sogleich dort hinführen können), jedes Bild von nackten Frauen, sei es ein Rubens’sches Prachtweib in Meisterwerke der Welt , eine Karikatur von Peter Arno in der letzten Ausgabe des NewYorker oder meines Vaters kleine Privatbibliothek mit Zeitschriften voll nackter Mädels an einer Geheimstelle in seinem Schlafzimmer, die nur er, ich und 111 meiner engsten Freunde kannten.
    Ich wusste, wie ich von jedem beliebigen Grundstück in unserer Nachbarschaft zum nächsten kam, einerlei, wie hoch die Zäune oder wie undurchdringlich die Hecken dazwischen waren. Ich wusste, wie sich Linoleum auf nackter Haut anfühlte und wie auf Bodenhöhe alles roch. Ich kannte Schmerz, so wie man ihn kennen lernt, wenn er frisch und interessant ist – zum Beispiel den Schmerz, den ein geröstetes Marshmallow im Mund verursacht, wenn das Innere annähernd Magma-Temperaturen hat. Ich wusste genau, wie Wolken an einem Julinachmittag vorbeitrieben, wie Regen schmeckte, wie sich Marienkäfer putzten und Raupen kräuselten, wie es sich anfühlte, wenn man in einem Busch saß. Ich hatte gelernt, einen echt guten Furz zu goutieren, sei es meiner oder der eines anderen.
    Der andere war fast immer Buddy Doberman, der auf der gegenüberliegenden Seite des Durchgangs wohnte, einer geheimnisvollen Gasse, die ganz nachbarschaftlich hinter unseren Häusern verlief. Im ersten Teil meines Lebens war Buddy mein bester Kumpel. Wir waren extrem eng befreundet. Er war das einzige menschliche Wesen, dessen Anus ich je von nahem, ja, überhaupt betrachtet habe, nur um zu sehen, wie einer aussieht (rötlich,

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