Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
aus.
Doch nie kam jemand auf die Idee, uns davon abzuhalten oder auch nur anzudeuten, dass es vielleicht nicht klug sei, durch Insektizidwolken zu flitzen. Womöglich dachte man, ein großzügiges Besprühen mit DDT täte uns gut. So war das damals. Vielleicht aber betrachtete man uns auch nur als ersetzbar, weil es so viele von uns gab. 2
Der andere Unterschied zu heute bestand darin, dass die Kinder beinahe die ganze Zeit draußen waren – ich kannte welche, die morgens früh um acht aus der Hintertür geschoben und vor fünf Uhr nachmittags nur dann wieder reingelassen wurden, wenn sie lichterloh brannten oder in Strömen bluteten. Und stets war man damals auf der Suche nach Beschäftigung. Wenn man mit einem Fahrrad an einer Ecke stand – einer x-beliebigen, egal, wo –, tauchten über 100 Kinder auf, von denen man viele noch nie gesehen hatte, und fragten, wo man hinwollte.
»Vielleicht gehe ich zur Trestle«, sagte man dann nachdenklich. Die Trestle war eine Eisenbahnbrücke über den Raccoon River, von der man in den Fluss springen und darin schwimmen konnte, wenn es einen nicht störte, zwischen toten Fischen, alten Autoreifen, Ölfässern, Algenschleim, Schwermetallabwässern und Schmiere unklarer Herkunft herumzupaddeln. Die Trestle war eine von zehn anerkannten Wahrzeichen unseres Stadtbezirks. Die anderen waren: die Woods, der Pond, der River, die Railroad Tracks (gemeinhin nur »die Tracks«), das Vacant Lot – mit anderen Worten, das Wäldchen, der Weiher, der Fluss, die Eisenbahngleise (oder Gleise), die Brachfläche – sowie der Little League Park oder »Baseballplatz«, der Park, Greenwood (unsere Schule) und das New House. Das Neue Haus war jedes im Bau befindliche Haus und deshalb regelmäßig ein anderes.
»Können wir mitkommen?«, fragten die Kinder als Nächstes.
»Ja-a, gut«, antwortete man, wenn sie so groß wie man selbst, oder »Wenn du meinst, du schaffst es«, wenn sie kleiner waren. Kam man bei der Trestle oder beim Vacant Lot oder dem Weiher an, waren schon 600 andere Kinder da. 600 Kinder waren immer und überall da, außer, wo zwei oder mehrere Stadtviertel aneinanderstießen – im Park zum Beispiel –, da ging die Zahl in die Tausende. Ich nahm einmal an einem Eishockeyspiel auf dem See im Greenwood Park teil, bei dem 4000 Kinder mitmachten. Alle droschen wild mit ihren Stöcken um sich, und das Spiel lief schon mindestens eine Dreiviertelstunde, bis jemand merkte, dass wir gar keinen Puck hatten.
Das Leben in der Welt des Kindes war, wo immer man hinging, unbeaufsichtigt, unreglementiert, heftig – manchmal gefährlich –, körperbetont und doch bemerkenswert friedlich. Wenn sich die Kinder stritten, gingen sie nie zu weit, was erstaunlich ist, wenn man bedenkt, wie schlecht Kinder ihre Gefühle unter Kontrolle haben. Als ich ungefähr sechs war, sah ich einmal, wie ein Kind aus einer ziemlichen Entfernung einen Stein nach einem anderen Kind warf, der Stein vom Kopf des Opfers abprallte (wunderschön, muss ich sagen) und es blutete. Darüber redete man noch jahrelang. Selbst Kinder, die weiter weg wohnten, erfuhren davon. Das Kind, das den Stein geworfen hatte, wurde für ungefähr 10 000 Stunden zur Therapie geschickt.
Wenn wir überhaupt einmal gewalttätig wurden, dann passierte das höchstens aus Versehen. Obwohl: Einem Jungen namens Milton Milton verpassten wir manchmal (na, eigentlich regelmäßig) Kopfnüsse, weil er so einen saudoofen Namen hatte und die ganze Zeit so tat, als habe er einen Motor. Ich wusste nie, ob er eine Eisenbahn oder ein Roboter oder was sonst war, doch er bewegte die Arme beim Gehen immer wie Kolben und gab Pufflaute von sich. Da war doch klar, dass wir ihm Kopfnüsse gaben. Mussten wir. Kopfnüsse kriegen war sozusagen sein Schicksal.
Apropos versehentliches Blutvergießen – da darf ich mich in aller Bescheidenheit rühmen, eines ruhigen Septembernachmittags den im Viertel denkwürdigsten Beitrag dazu geliefert zu haben. Ich war neun Jahre alt und spielte in Leo Collingwoods Hinterhof Fußball. Wie immer nahmen etwa 150 Kinder an dem Spiel teil; wenn man also attackiert wurde und hinfiel, landete man normalerweise in einer marshmallowweichen Masse von Körpern. Hatte man richtig Glück, landete man auf Mary O’Leary und konnte sich, während man wartete, dass die anderen von einem aufstanden, einen Moment lang auf ihr ausruhen. Sie roch nach Vanille – Vanille und frischem Gras – und war weich und sauber und schmerzlich
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