Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
gespannt und ein wenig runzlig, erinnere ich mich mit eher besorgniserregender Klarheit). Buddy war gutmütig und hatte wunderschöne Spielsachen, weil seine Eltern großzügig und wohlhabend waren.
Dazu kam seine ausgesprochen liebenswürdige Dummheit. Als er und ich vier waren, schenkte uns sein Großvater ein Paar Piratenschwerter, die er in seiner Werkstatt hergestellt hatte, und wir gingen direktemang in Mrs. Van Pelts preisgekrönte Blumenrabatte, die fast dreißig Meter an besagtem Weg entlangliefen. Mit hektischen Drehbewegungen, mit denen wir das munter zerstörerische Treiben eines Rasentrimmers um mehrere Jahre vorwegnahmen, enthaupteten oder verstümmelten wir binnen Sekunden jede einzelne ihrer geliebten Zinnien. Als ich begriff, welche Ungeheuerlichkeit wir da gerade verübt hatten – Mrs. Van Pelt zeigte diese Blumen bei der landwirtschaftlichen Ausstellung des Bundesstaates Iowa, der State Fair; sie redete mit ihnen; es waren ihre Kinder! –, erzählte ich Buddy, dass ich Ärger zurzeit gar nicht gebrauchen könne, weil mein Vater an einer tödlichen Krankheit leide, von der niemand wisse. Ob es ihm was ausmachen würde, die Schuld auf sich zu nehmen? Nein, machte es nicht. Während er daraufhin um drei Uhr nachmittags in sein Zimmer geschickt wurde und den Rest des Tages als weinerliches Gesicht an einem hohen Fenster erschien, saß ich auf unserer rückwärtigen Veranda, Füße auf dem Geländer, stopfte mich mit frischer Wassermelone voll und hörte ausgewählte tolle Schallplatten auf dem tragbaren Plattenspieler meiner Schwester. Eine wichtige Lektion hatte ich gelernt: Der Versuch zu lügen lohnt sich immer. In den nächsten sechs Jahren gab ich Buddy für alles Schlimme, das ich in meinem Leben verbrach, die Schuld. Ich glaube, zum Schluss hielt er sogar noch den Kopf dafür hin, dass er meinem Onkel Dick das Loch in den Schädel gebrannt hatte. Dabei hatte er den Mann nie gesehen.
Damals wie heute war Des Moines eine ungefährliche, anständige Stadt mit 200 000 Einwohnern. Die Straßen waren lang, gerade, grün und sauber und hatten solide amerikanische Namen: Woodland Avenue, University Avenue, Pleasant Avenue, Grand Avenue. Die meisten Läden hatten ein kleines Rasenstück davor anstelle von Parkplätzen. Öffentliche Gebäude – die Postämter, Schulen, Krankenhäuser – waren immer majestätisch und imposant. Tankstellen sahen oft wie kleine Cottages aus. Diners (oder Raststätten) erinnerten einen an Hütten, wie man sie auf einem Angelausflug findet. Nichts war angelegt worden, um dem Autoverkehr besonders entgegenzukommen. Es war eine grünere, stillere, weniger aufdringliche Welt.
Die Grand Avenue war die Hauptverkehrsader durch die Innenstadt und verband das Zentrum, wo alle arbeiteten und die wichtigen Einkäufe tätigten, mit den Wohngebieten ringsum. Die besten Häuser der Stadt lagen südlich der Grand auf der Westseite Des Moines’, in einem hügeligen, mit herrlichen Bäumen bestandenen Viertel, das bis zum Waterworks Park und zum Raccoon River ging. Man konnte dort stundenlang durch gewundene Straßen gehen und sah nichts als makellose Rasenflächen, alte Bäume, frisch gewaschene Autos und hübsche glückliche Eigenheime. Der amerikanische Traum – so weit man auch blickte. Das war mein Stadtviertel. Es hieß South of Grand.
Der auffallendste Unterschied zwischen damals und heute war, dass es viel mehr Kinder gab. In den fünfziger Jahren lebten in den Vereinigten Staaten 32 Millionen Kinder (bis zu zwölf Jahren) und jedes Jahr plumpsten vier Millionen neue Babys auf die Wickelunterlagen. Kinder in jetzt unvorstellbaren Massen waren allgegenwärtig, doch besonders dann, wenn etwas Interessantes oder Ungewöhnliches passierte. Zu Beginn jeden Sommers, wenn die Mosquitosaison begann, kam ein Angestellter der Stadt in einem offenen Jeep in unser Viertel und fuhr wie ein Verrückter mit einer Nebelmaschine herum, die dichte bunte Wolken Insektizide versprühte – über Grünflächen, in Wäldchen, entlang der Kanalisation, über unbebaute Grundstücke. Wenigstens 11 000 Kinder flitzten freudig fast den ganzen Tag durch die Insektizidschwaden. Widerliches Zeug, es schmeckte grauenhaft, es machte einem die Lungen kalkig, und man war hinterher von einer pulvrigen safrangelben Blässe überzogen, die man auch durch noch so viel Schrubben nicht abbekam. Noch Jahre später spuckte ich jedes Mal, wenn ich in ein weißes Taschentuch hustete, einen kleinen Ring farbiges Pulver
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