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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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hinter ihnen stand. Irgendwann dann schwoll die Musik an, und eine der Figuren erzählte der anderen (mittels der Gardinen), dass sie das alles nicht mehr aushalte und gehen werde.
    »Ich auch!«, witzelte ich freundlich in Richtung meiner Mutter und schlenderte zwecks Szenenwechsels in die Männertoilette. Die Männertoiletten in den Kinos im Stadtzentrum waren riesig, beruhigend hell und hatten einfach Klasse. Gute Spiegel von der Decke bis zum Boden, vor denen man üben konnte, wie ein Pistolenheld zu ziehen, und etliche Automaten – Kammautomaten, Kondomautomaten –, in die man fast mit dem Arm reinkam. Die lange Reihe Klozellen war durch Wände voneinander getrennt, bei denen man die Füße von Leuten in den Nachbarzellen sehen konnte, deren Zweck ich aber nie begriffen habe, ja, auch heute noch nicht begreife. Mir fällt ums Verrecken keine Situation ein, in der es für irgendjemanden von Vorteil ist, die Füße des Nachbarn zu sehen. Zum Zeichen, dass ich da gewesen war, ging ich stets in die Zelle am linken äußeren Ende und versperrte die Tür, kroch dann unter den Trennwänden in die nächste Zelle, verschloss die und so weiter, bis ich alle verriegelt hatte. Es vermittelte mir immer das seltsame Gefühl, etwas geleistet zu haben.
    Weiß der Henker, durch was ich alles gekrochen bin, um dieses kleine Kunststück zu vollbringen, aber damals war ich enorm dumm. Ich meine wirklich ganz enorm. Als ich ungefähr sechs war, das weiß ich noch, beschäftigte ich mich fast einen ganzen Film lang damit, irgendwelches interessant süß riechende Zeugs von der Unterseite meines Sitzes zu zupfen, und dachte, es sei Teil des zur Herstellung des Sitzes verwendeten Materials, bis ich plötzlich kapierte, dass es Kaugummi war, das vorher dort Sitzende hingeklebt hatten.
    Mir war ungefähr zwei Jahre übel, wenn ich daran dachte, welch grotesker, unhygienischer Aktivität ich mich hingegeben und danach mit den Fingern, mit denen ich von anderen Leuten Ausgekautes berührt hatte, buttertriefendes Popcorn und eine große Tüte Chuckles gegessen hatte. Ich hatte diese Finger sogar – igittigitt! – abgeleckt und emsig eimerweise syphilitische Tröpfchen und wer weiß was enthaltende Spucke von ihren ausgespienen Wrigley’s und Juicy Fruits in meinen gesunden Mund und meinen rosig-glatten Verdauungstrakt befördert. Es war nur eine Frage der Zeit – höchstens Stunden –, und dann würde ich nuschelnd ins Delirium fallen und langsam unter fiebrigen Todesqualen dahinscheiden.
    Nach dem Film gingen wir immer noch ein Stück Kuchen essen im Toddle House, einem urgemütlichen, winzigen, verqualmten Diner in der Grand Avenue mit schlechtgelauntem Personal und tanzenden Feuern, in die das Fett nur so spritzte. Das Toddle House war kaum mehr als eine Backsteinhütte mit einem einzigen Tresen und ein paar Drehbarhockern, aber nie hat es auf engem Raum derart himmlische Speisen gegeben oder solch köstliche Wärme an einem kalten Abend. Die Pies – die Kruste blättrig, die Füllung cremig und die Stücke immer großzügig zugeschnitten – waren das Paradies auf einem Teller. Normalerweise war das der Höhepunkt des Abends, doch nach dem Kaugummidesaster war ich zerstreut und untröstlich. Ich fühlte mich beschmutzt und zum Sterben verurteilt. Und hätte mir nicht träumen lassen, dass mir noch Schlimmeres bevorstand. Aber so war es. Als ich am Tresen saß und gedankenverloren in meiner Banana-Cream-Pie mit Vanillepudding und Schlagsahne herumstocherte, vor Mitleid mit mir selbst und meinem Verdauungstrakt verging und Wasser aus meinem Glas trank, merkte ich auf einmal, dass der neben mir sitzende alte Mann ebenfalls daraus getrunken hatte. Er war über 200 Jahre alt und aus den Mundwinkeln troff ihm grauer Sabber. In dem Wasser im Glas schwebten kleine, weiße zerkaute Stückchen.
    »Arrg, arrg, arrg«, krächzte ich mit insgeheimem Entsetzen und fasste mir mit beiden Händen an die Kehle. Meine Gabel fiel geräuschvoll zu Boden.
    »Na, sag, hab ich von deinem Wasser getrunken?«, fragte der alte Mann fröhlich.
    »Ja!« Mir blieb die Luft weg, und ich starrte fassungslos auf seinen Teller. »Und Sie haben … pochierte Eier gegessen!«
    Pochierte Eier waren das zweite Essen, das man wirklich nie mit einem zu wenig gewaschenen alten Mann teilen sollte, es wurde lediglich übertroffen von Hüttenkäse – aber nur knapp. Als dünnflüssiges Abfallprodukt beim Essen waren beide praktisch ununterscheidbar. »O arrg, arrg,

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