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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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wusste niemand, woher der Pullover kam. Mein Vater meinte, es könne ein altes Fußball- oder Eishockeycollegetrikot von vor dem Ersten Weltkrieg sein. Aber wie es in unser Haus gelangt war, wusste er auch nicht. Vielleicht hatten es die Vorbesitzer dorthin gehängt und vergessen, als sie ausgezogen waren.
    Doch ich wusste es besser. Es war ganz offensichtlich der Heilige Pullover von Zap, mir höchstpersönlich von King Volton vererbt, meinem verstorbenen leiblichen Vater, der mich im Erdjahr 1951 (Electrojahr 21000047002), kurz bevor unser spartanischer Planet mit der futuristischen Architektur spektakulär in eine Milliarde steinerner Trümmerstückchen explodierte, in einem silbernen Raumschiff zur Erde gebracht hatte. Damit ich die Electrokräfte und -glaubensgrundsätze bewahren konnte, hatte er mich in dieser harmlosen Familie in der Mitte der Vereinigten Staaten abgeladen und sie hypnotisiert, so dass sie nun glaubten, ich sei ein normaler Junge.
    Und der Pullover war das entscheidende Kleidungsstück für meine Superkräfte. Er transformierte mich. Er verlieh mir kolossale Kraft, Muskelpakete, einen Röntgenblick, die Fähigkeit zu fliegen, mit dem Kopf nach unten an Zimmerdecken entlangzulaufen, mich im Nu unsichtbar zu machen, wie ein Cowboy Lasso zu werfen und Widersachern aus großer Entfernung die Waffe aus der Hand zu schießen, eine gute Stimme zum Singen am Lagerfeuer und ulkiges blauschwarzes Haar mit einer hochtoupierten Locke auf dem Haupt. Kurzum, der Pullover machte mich zu der Art Mensch, die Männer sein und mit denen Frauen zusammen sein wollen.
    Zusätzlich zu dem Pullover bediente ich mich einer Auswahl an Ausrüstungsgegenständen aus meinem schon existierenden Fundus, die meine Kraft und glanzvolle Erscheinung weiter verstärkten: Zorro-Peitsche und -Degen, Sky-King-Halstuch und Halstuchring (mit verborgener Trillerpfeife), Pfeil und Bogen samt Köcher von Robin Hood, Roy Rogers’ reich bestickte Cowboyweste und juwelenbestückte Stiefel samt klimpernden Blechsporen, eine Batman-Taschenlampe mit Signalgeber (um Nachrichten an Wolken reflektieren zu lassen) und ein langes Jagdmesser aus Gummi. Am Gürtel trug ich eine klappernde Feldflasche aus Armeebeständen, aus der alles, was man hineintat, komisch nach Metall schmeckte; und mit dem Kompass und offiziellen Pfadfinder-Essbesteck, dem Vitt-L-Kit, hatte ich alle notwendigen Gerätschaften, die man brauchte, um in der Wildnis eine anständige Mahlzeit zuzubereiten und Wildkatzen, Grizzlybären oder pädophile Pfadfinderführer zu vertreiben.
    Manchmal nahm ich auch einen Tornister mit, in dem sich ein kleiner Imbiss und zusätzliche Munition befanden, doch ich benutzte ihn nicht zu oft, weil er seltsamerweise immer nach Katzenurin roch und das freie Ausbreiten des roten Badetuchs behinderte, das ich mir zum Fliegen um den Hals band. Kurzzeitig zog ich mir auch Unterhosen über die Jeans wie Superman (eine Marotte beim Ankleiden, die man vergeblich zu ergründen suchte), doch das erzeugte im Kiddie Corral eine derartige Heiterkeit, dass ich es bald aufgab.
    Auf den Kopf setzte ich mir je nach Jahreszeit einen grünen Filzcowboyhut oder eine Davy-Crockett-Waschbärenfellmütze beziehungsweise für die Tätigkeit in den Lüften einen von Johnny Unitas empfohlenen Footballhelm mit stabilem Plastikgesichtsschutz. Wenn ich alles trug, wog die Ausrüstung etwas über dreißig Kilo. Das heißt, ich trug sie eigentlich weniger, als dass ich sie mit mir herumschleppte. In voller Montur war ich Thunderbolt Kid (später Captain Thunderbolt); den Namen verlieh mir mein Vater in einem Moment der Bewunderung, als er kichernd ein Schwert, das sich verhakt hatte, losmachte, mich die fünf Holzstufen an unserer hinteren Veranda hochhob und mir damit vielleicht eine zehnminütige beschwerliche Kletterei ersparte.
    Gott sei Dank musste ich nicht sehr mobil sein, denn meine Superkräfte dienten eigentlich nicht dazu, böse Menschen zu fangen oder Gutes für den gemeinen Mann zu tun, sondern ich benutzte meinen Röntgenblick in erster Linie, um unter die Kleider attraktiver Frauen zu schauen und Menschen, die meinem Glück im Wege standen, zu karbonisieren und eliminieren – Lehrer, Babysitter, alte Leute, die einen Kuss wollten. Alle damaligen Helden hatten ihre Spezialgebiete. Superman kämpfte für Wahrheit, Gerechtigkeit und den amerikanischen Way of Life. Roy Rogers jagte fast ausschließlich kommunistische Agenten, die sich verschworen, Gift ins

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