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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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arrg!«, schrie ich und machte über meinem Teller Geräusche wie eine Katze, die sich abmüht, einen Haarklumpen hervorzuwürgen.
    »Na, dann will ich hoffen, dass du keine Läuse hast!«, sagte er, klopfte mir jovial auf den Rücken und stand auf, um zu zahlen.
    Fassungslos starrte ich hinter ihm her. Er beglich seine Rechnung, legte sich einen Zahnstocher auf die Zunge und schlenderte o-beinig zu seinem Pick-up.
    Er kam nie an. Als er den Arm ausstreckte, um die Tür zu öffnen, flogen aus meinen wild aufgerissenen Augen elektrische Blitze und glitten über seinen Körper. Einen Moment glühte er, dann verschmolz er zu einem kurzen, stummen, schrecklichen Grinsen des Todes und war weg.
    Es war der Entstehungsmoment der ThunderVision™. Für Schwachköpfe war die Welt soeben gefährlich geworden.
    Es gibt viele Versionen der Geschichte, wie Thunderbolt Kid seine fantastischen Kräfte erlangte – so viele, dass ich es selbst nicht mehr genau weiß. Doch ich glaube, die ersten Hinweise, dass ich nicht vom Planeten Erde stammte, sondern von irgendwo anders her (dem Planeten Electro in der Galaxie Zizz, erfuhr ich später), entnahm ich den Unterhaltungen meiner Eltern. Einen Großteil meiner Kindheit verbrachte ich damit, ihnen bei ihren Plaudereien zuzuhören – na, eigentlich, sie zu überwachen. Sie führten ungeheuer lange Gespräche, die stets am Rande kurios fröhlicher Geistesgestörtheit entlangzutanzen schienen. Ich erinnere mich, dass mein Vater eines Tages einmal ganz aufgeregt mit einem Zettel hereinkam, auf dem ein Wort stand.
    »Was ist das für ein Wort?«, sagte er zu meiner Mutter. Das Wort war »Chaiselongue«.
    »Schäis laundsch«, sagte sie und sprach es wie alle Menschen in Iowa, wahrscheinlich wie alle Amerikaner, aus. Damals war eine Chaiselongue ausschließlich eine in Mode gekommene verstellbare Gartenliege. Dazu gehörte ein Polster, das man abends mit reinnahm, wenn man dachte, jemand anderer werde es klauen. Über unser Polster galoppierten vier Pferde mit einer Kutsche. Das brauchten wir abends nicht mit reinzunehmen.
    »Schau’s dir noch mal an«, sagte mein Vater.
    »Schäis laundsch«, wiederholte meine Mutter, die sich nicht einschüchtern ließ.
    »Nein«, sagte er, »schau dir den zweiten Teil des Wortes an. Ganz genau.«
    Sie schaute genau hin. »O«, sagte sie und kapierte. Dann versuchte sie es noch einmal. »Schäis lon-guäy.«
    »Nein, es heißt nur ›long‹«, sagte mein Vater freundlich, versah es aber mit einem gallischen Schnurrlaut. »Schäis lohhhnggg«, wiederholte er. »Ist das nicht verrückt? Ich habe das Wort bestimmt hundertmal gesehen und nie gemerkt, dass es nicht ›laundsch‹ heißt.«
    »Lonngg«, sagte meine Mutter, noch nicht ganz überzeugt. »Das wird ’ne Weile dauern, bis man sich daran gewöhnt hat.«
    »Es ist französisch«, erklärte mein Vater.
    »Ja, das wird’s wohl sein«, sagte meine Mutter. »Was es wohl bedeutet?«
    »Keine Ahnung«, sagte mein Vater und schaute aus dem Fenster. »Ach, schau, da kommt Bob von der Arbeit nach Hause. Ich probier es mal an ihm aus.« Er schnappte sich Bob in der Einfahrt, und sie unterhielten sich staunend zehn Minuten lang. Die nächste Stunde sah man, wie mein Vater den Gang auf und ab und manchmal in die umliegenden Straßen lief und das Stück Papier den Nachbarn zeigte, und sie alle staunten und unterhielten sich angeregt darüber. Später kam Bob und fragte, ob er sich den Zettel borgen könne, um ihn seiner Frau zu zeigen.
    Ungefähr um diese Zeit keimte in mir der erste Verdacht, dass ich nicht von diesem Planeten kam und dass diese Leute nicht meine leiblichen Eltern waren – es nicht sein konnten.
    Dann stöberte ich eines Tages, als ich noch nicht ganz sechs Jahre alt war, auf der Suche nach etwas Scharfem oder Brennbarem, das ich bisher übersehen hatte, hier und dort im Keller herum und fand hinter der Heizung hängend einen selten schicken Wollpullover. Ich schlüpfte hinein. Er war mir viel zu groß und zu weit – die Ärmel berührten fast den Boden, wenn ich sie nicht immer wieder hochschob –, doch es war das hübscheste Stück Oberbekleidung, das ich je gesehen hatte. Es war aus schimmernder, wetterfester, geölter Baumwolle, tiefflaschengrün, extrem warm und schwer, ziemlich kratzig und ein wenig mottenlöchrig, aber immer noch ein außergewöhnliches Prachtexemplar. Auf dem Vorderteil prangte ein goldener, schon sehr verblasster Blitz aus satinartigem Stoff. Interessanterweise

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