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Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
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zischende Raketen hin und wieder die unselige Tendenz haben mochten, ihr Ziel zu verfehlen, und in Fabriken oder Krankenhäusern durchs Dach krachen oder im Flug explodieren oder vorbeikommende Flugzeuge außer Gefecht setzen konnten. Und dass für die Zustellung einer Nutzlast, die bei den herrschenden Posttarifen im Höchstfall 120 Dollar kostete, jeder Abschuss zehntausende Dollar verschlang.
    Raketenpost hatte also keinen Augenblick lang eine realistische Chance, und jeder Cent von der einen Million Dollar, die man ausgegeben hatte, war zum Fenster hinausgeworfen. Egal. Wichtig war, dass wir wussten, wir konnten Post mit Raketen verschicken, wenn wir wollten. Schließlich war es ein Zeitalter, in dem geträumt werden durfte.
    Wenn man heute zurückblickt, findet man fast nichts, das damals nicht wenigstens einen Tick aufregend war. Selbst beim Haareschneiden konnte man ungewöhnlich viel Spaß haben. 1955 gingen mein Vater und mein Bruder zum Figaro, und als sie zurückkamen, hatte jedes Haar auf ihrem Kopf Haltung angenommen und war so geschnitten, dass die Spitzen eine perfekte horizontale Fläche bildeten. Diese faszinierende Frisur wurde bekannt als »flat-top«, was im Militärjargon ein Flugzeugträger ist, und mein Vater und mein Bruder sahen den Rest des Jahrzehnts auch wirklich so aus, als seien sie im Notfall gerüstet, Landeflächen für sehr kleine Experimentierflugzeuge bereitzustellen oder vielleicht ja auch für Eilsendungen, die mit Miniaturraketen versandt wurden. Nie haben Menschen gleichzeitig so lächerlich und so glücklich ausgesehen.
    Das Zeitalter entbehrte zudem nicht einer gewissen liebenswürdigen Unschuld. Laut einer Nachrichtenmeldung nahm eine Mrs. Julia Chase aus Hagerstown, Maryland, am 3. April 1956 an einer Führung durch das Weiße Haus teil, stahl sich von ihrer Gruppe weg und verschwand im Inneren des Gebäudes. Viereinhalb Stunden lang wanderte Mrs. Chase, die später als »zerzaust, zerstreut und nicht ganz klar im Kopf« beschrieben wurde, durchs Weiße Haus und legte Feuerchen – im ganzen fünf. So streng waren die Sicherheitsmaßnahmen damals: Eine Frau, die nicht ganz klar im Kopf war, konnte länger als einen halben Arbeitstag lang unbemerkt durch die Präsidentenresidenz streifen. Stellen Sie sich vor, was passieren würde, wenn das heute jemand versuchte: Sofort würden überall die Alarmanlagen angehen, Luftwaffendüsenjäger aufsteigen, die Mannschaften der Spezialeinsatzkommandos aus der Deckenverkleidung plumpsen, Panzer über die Rasenflächen rollen und das Zielgebiet neunzig Minuten lang unter Dauerbeschuss nehmen. Hinterher würde man großzügig Tapferkeitsmedaillen verleihen, unter anderem posthum an die 76 Leute in Virginia und Maryland, die durch Beschuss von der eigenen Seite umgekommen wären. Als man Mrs. Chase 1956 fand, nahm man sie mit in die Personalküche, schenkte ihr eine Tasse Tee ein und übergab sie der Obhut ihrer Familie; danach ward nie wieder von ihr gehört.
    Auch in der Küche passierte Aufregendes. »Vor ein paar Jahren brauchte eine Hausfrau fünfeinhalb Stunden, um die täglichen Mahlzeiten für eine vierköpfige Familie zuzubereiten«, berichtete die Time 1959 in einer Titelgeschichte, und meine Mutter hat garantiert mit Begeisterung zur Kenntnis genommen, dass »sie es heute in neunzig Minuten oder weniger erledigen und trotzdem Mahlzeiten zubereiten kann, die höchsten Ansprüchen genügen und gewiss auch einem wählerischen Ehegatten schmecken.« Dann zählten die anonymen Tippgeber die fantastischen neuen Fertigprodukte auf, die auf uns warteten. Tiefgefrorene Salate. Sprühmajonäse. Käse, den man mit einem Messer verstreichen konnte. Flüssigen Pulverkaffee in einer Sprühdose. Ein komplettes Pizzagericht in einer Tube.
    Voll tief empfundener Anerkennung schilderte der Artikel weiter, dass Charles Greenough Mortimer, Vorstandsvorsitzender von General Foods und kulinarischer Visionär ersten Ranges, sich so über die Fadheit, Zerkochtheit und deprimierende Vorhersagbarkeit der landläufigen Gemüsesorten geärgert hatte, dass er seine besten Männer daransetzte, in den Labors von General Foods »neue« zu kreieren. Und nun hatten Mortimers Küchenmagiere gerade ein Produkt namens Rolletes ausgeheckt, für das sie mehrere Gemüse pürierten – zum Beispiel Erbsen, Karotten und Limabohnen –, den dabei entstehenden Brei mischten und in Stäbchen einfroren, die die vielbeschäftigte Hausfrau auf ein Backblech legen und im Ofen

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