Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
erwärmen konnte.
Rolletes war das gleiche Schicksal beschieden wie der Raketenpost (und Charles Greenough Mortimer), doch eine große Zahl anderer Viktualien eroberte sich einen Platz in unseren Mägen und Herzen. Am Ende des Jahrzehnts konnten die amerikanischen Konsumenten unter fast 100 Eismarken, 500 Sorten Frühstücksflocken und beinahe ebenso vielen Kaffeemarken wählen. Gleichzeitig pumpten die nationalen Nahrungsmittelfabriken ihre Produkte voll mit den köstlichen Farben und Konservierungsmitteln, um deren Reiz zu erhöhen und zu erhalten. Ende der Fünfziger enthielten die Supermarktlebensmittel der Vereinigten Staaten bis zu 2000 chemische Zusatzstoffe, einschließlich (laut einer Studie) »neun Emulgatoren, 31 Stabilisatoren und Verdickungsmitteln, 85 oberflächenaktive Stoffe, sieben Antiverklumpungs-, 28 Antioxydations- und 44 Trennmittel«. Manchmal, glaube ich, enthielten sie auch Essen.
Selbst der Tod war einigermaßen aufregend, besonders, wenn er andere betraf und nicht einen selbst. 1951 bat die Zeitschrift Popular Science die zehn führenden Wissenschaftsjournalisten der Nation, die vielversprechendsten wissenschaftlichen Durchbrüche zu nennen, mit denen sie in den nächsten zwölf Monaten rechneten, und genau die Hälfte von ihnen nannte die Verfeinerung der atomaren Bewaffnung – mehrere durchaus mit großer Genugtuung. Arthur J. Snider von der Chicago Daily News zum Beispiel bemerkte aufgeregt, dass amerikanische Bodentruppen schon bald mit individuellen Atomsprengköpfen ausgerüstet werden könnten. »Mit einem kleinen atomar gerüsteten Artilleriekorps, das in ein dichtes Truppenaufgebot feuern kann, werden die Möglichkeiten der taktischen Kriegführung revolutioniert!«, begeisterte sich Snider. »Gebiete, die in der Vergangenheit einer wochen- und monatelangen Belagerung standhielten, können dann in Tagen oder Stunden dem Erdboden gleichgemacht werden.« Hurra!
Die Menschen waren von der glühenden Erhabenheit und übermenschlichen Macht der Atombomben bezaubert und fasziniert – ja, in Bann geschlagen. Als das Militär begann, an einem ausgetrockneten See namens Frenchman Flat in der Wüste von Nevada Nuklearwaffen zu testen, wurde das die angesagteste Touristenattraktion der Stadt. Die Leute kamen nicht wegen des Glücksspiels nach Las Vegas – oder jedenfalls nicht ausschließlich deswegen –, sondern, um am Rand der Wüste zu stehen, zu spüren, wie der Boden unter ihren Füßen bebte, und zuzusehen, wie sich die Luft vor ihnen mit immer größer sich blähenden Staub- und Qualmsäulen füllte. Besucher konnten sich im Atomic View Motel einquartieren, einen Atomic Cocktail (»zu gleichen Teilen Wodka, Kognak und Sekt mit einem Spritzer Sherry«) in den örtlichen Cocktailbars bestellen, einen Atomic Hamburger essen, sich eine Atomfrisur legen lassen, der jährlichen Krönung der Miss Atombombe beiwohnen oder die nächtlichen rhythmischen Kreisbewegungen einer Stripteasetänzerin namens Candyce King verfolgen, die sich »Atomexplosion« nannte.
In den Hochzeiten der Tests wurden in Nevada bis zu vier Atomexplosionen im Monat durchgeführt. Die Atompilze waren von allen Parkplätzen in Las Vegas aus zu sehen 4 , doch die meisten Besucher gingen, oft mit Picknickutensilien, an den Rand der Detonationszone selbst, beobachteten die Tests und genossen danach den Fallout. Und es waren keine kleinen Explosionen. Manche wurden von Flugzeugpiloten gesehen, die Hunderte von Meilen entfernt draußen über dem Pazifischen Ozean waren. Oft trieb radioaktiver Staub über Las Vegas und hinterließ auf jeder horizontalen Fläche eine sichtbare Staubschicht. Nach einigen der ersten Tests gingen staatliche Techniker in weißen Laborkitteln durch die Stadt und hielten Geigerzähler an alles. Die Leute standen Schlange, um zu erfahren, wie radioaktiv sie waren. Das war alles im Vergnügen inbegriffen. Was für eine Freude, dass man unzerstörbar war.
So vergnüglich es war, Atomexplosionen zu beobachten und dann selbst schwach radioaktiv zu glühen – am meisten Freude machte in den Fünfzigern immer noch das Fernsehen. Es war besser als Flat-top-Frisuren, Raketenpost, Sprühmajonäse und die Atombombe zusammen. Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie toll damals alle das Fernsehen fanden.
1950 hatten nicht viele Privathaushalte in den Vereinigten Staaten einen Flimmerkasten. 40 Prozent der Menschen hatten noch nicht einmal eine einzige Sendung gesehen. Dann wurde ich geboren,
Weitere Kostenlose Bücher