Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
und das Land flippte aus (wenn auch die beiden Ereignisse nicht direkt miteinander verknüpft waren). Bis Ende 1952 hatte ein Drittel der Haushalte – 20 Millionen oder so was in dem Dreh – Fernsehgeräte gekauft. Die Zahl wäre sogar noch höher gewesen, wenn große ländliche Gebiete Empfang (ja, in vielen Fällen: Strom) gehabt hätten. Die Bewohner der Städte waren dagegen schnell versorgt. Im Mai 1953 verkündete United Press, dass Boston nun mehr Fernseher (780 000) als Badewannen (720 000) habe, und in einer Meinungsumfrage gaben die Leute zu, dass sie lieber hungern als auf ihr Fernsehen verzichten würden. Vermutlich hungerten tatsächlich viele. Anfang der Fünfziger war der durchschnittliche Nettolohn eines Fabrikarbeiters weit unter 100 Dollar die Woche, ein neuer Fernseher kostete bis zu 500. 5
Fernsehen war so aufregend, dass die Bekleidungsfirma McGregor eine ganze Kollektion darauf abstimmte. »Mit der spektakulären Zunahme des Fernsehens bleiben viele Amerikaner zu Hause«, bemerkte die Firma in ihren Anzeigen. »Für diesen revolutionären Lebensstil bereitet McGregor eine Revolution in der Sportbekleidung vor. Ob Sie zuschauen – oder Ihnen zugeschaut wird – hier ist die Sportkleidung zum Hinschauen.«
Die Kollektion hieß »Videos«, und die Firma bewarb sie mit einer Illustration in dem detailreichen, fotografisch genauen Stil von Norman Rockwell. Vier sportlich aussehende junge Männer saßen gemütlich vor einem glimmenden Fernseher und trugen alle ein flottes neues Teil aus der Videos-Kollektion – eine Glen Plaid Visa-Versa-Wendejacke, eine Allwetter-Host Tri-Threat Jacke, eine Durosheen-Host Jacke mit passender Freizeithose und für die, die sich einen Hauch schwul fühlten, ein Arabian-Knights-Gabardinesporthemd mit Paisleymuster, hübsch kombiniert mit noch einer Allwetterjacke. Die jungen Männer auf dem Bild schauten extrem zufrieden drein, mit dem Fernsehen, mit ihrem Outfit, mit ihren guten Zähnen und klaren Teints, mit allem – und es war auch ganz egal, dass ihre Kleidung eindeutig zum Tragen im Freien gedacht war. Vielleicht rechnete McGregor damit, dass sie in den Blumenbeeten des Nachbarn standen und durchs Fenster fernsahen wie wir vor Mr. Kiesslers Haus. Trotzdem war der McGregor’schen Kollektion kein großer Erfolg beschieden.
Es stellte sich nämlich heraus, dass die Leute keine besonderen Klamotten zum Fernsehen wollten. Sie wollten besonderes Essen. Und 1954 brachten C.A. Swanson and Sons aus Omaha das perfekte Produkt auf den Markt: das TV Dinner (offiziell: TV Brand Dinner), womöglich das beste schlechte Essen, das je produziert wurde, und das meine ich als zutiefst aufrichtiges Kompliment. Mit einem TV Dinner bekam man ein ganzes Gericht auf einem unterteilten Aluminiumtablett. Zusätzlich brauchte man nur ein Messer, eine Gabel und einen Klacks Butter auf dem Kartoffelbrei, und schon hatte man eine vollständige Mahlzeit, deren Einzelteile einem gemeinhin (zumindest in unserem Haus) auch noch ein interessantes Spektrum an Temperaturerfahrungen verschafften, von lauwarm und labbrig (das Brathähnchen) über so glühend heiß, dass man überrascht aufsprang (die Suppe oder das Gemüse), bis zu teilweise noch gefroren (der Kartoffelbrei). Und alles schmeckte seltsam metallisch, aber irgendwie auch wieder sehr zufrieden stellend, vielleicht aus dem einfachen Grunde, weil es neu war und es dergleichen sonst nicht gab. Dann brachte ein anderer genialer Neuerer spezielle Klapptabletts auf den Markt, auf die man beim Fernsehen die TV Dinner stellen konnte, und damit hatte sich zum letzten Mal ein Kind – ja, überhaupt ein Menschenwesen – freiwillig zum Essen an einen Tisch gesetzt.
Natürlich war es nicht das Fernsehen, das wir heute kennen. Zum einen waren die Werbespots oft richtig in die Sendungen eingebaut, was ihnen einen liebenswerten, unschuldigen Zauber verlieh. In Burns and Allan , meiner Lieblingsserie, trat ungefähr nach der Hälfte der Sendezeit ein Ansager namens Harry Von Zell auf, schlenderte in Georges and Gracies Küche und machte am Küchentisch Werbung für Carnation-Büchsenmilch (»die Milch von zufriedenen Kühen«), während George und Gracie entgegenkommenderweise warteten, bis er fertig war, und dann mit der lustigen Geschichte der Woche fortfuhren.
Damit auch ja niemand vergaß, dass das Fernsehen ein kommerzielles Unternehmen war, verwob man den Namen des Sponsors oft großzügig in die Titel der Sendungen: die Colgate Comedy
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