Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
General Motors war eine größere Wirtschaftseinheit als Belgien und außerdem weit aufregender.
Fernsehen und Autos passten perfekt zusammen. Das Fernsehen zeigte eine Welt verlockender Dinge – Atombombenabwürfe in Las Vegas, flotte Bienen auf Wasserskiern in Florida, Thanksgiving-Day-Paraden in New York City – und mit dem Auto konnte man dorthin fahren.
Das verstand niemand besser als Walt Disney. Als er 1955 auf 60 Morgen Land unweit der völlig unbekannten Stadt Anaheim, 23 Meilen südlich von Los Angeles Disneyland eröffnete, dachten die Leute, er sei nicht recht bei Trost. In den fünfziger Jahren starben Rummelplätze aus. Sie waren ein Zufluchtsort für Arme, Einwanderer, Matrosen auf Landgang und andere Leute mit niedrigem Niveau und leeren Taschen. Doch Disneyland war natürlich von Anfang an anders. Zunächst einmal konnte man es nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichen; Menschen mit bescheidenen Mitteln kamen deshalb gar nicht erst hin. Und wenn sie es doch irgendwie bis vor die Einlasstore schafften, konnten sie sich den Eintritt nicht leisten. 6
Disneys Meisterleistung freilich war es, sich das Fernsehen zunutze zu machen, und zwar nach allen Regeln der Kunst. Schon ein Jahr, bevor Disneyland eröffnet wurde, startete er eine Fernsehserie, die im Prinzip eine wöchentliche einstündige Werbesendung für die Disney-Unternehmensgruppe war. Die Serie hieß in den ersten vier Jahren sogar Disneyland und viele Episoden, einschließlich der allerersten, waren ausschließlich dazu da, die Zuschauer für dieses Paradies der Träume und Abenteuer zu begeistern, das sich rasch aus den Orangenhainen Kaliforniens erhob – und zwar just an der Stelle mit den höchsten Smogwerten.
Als der Park endlich öffnete, konnten es die Leute gar nicht abwarten hinzukommen. Schon nach zwei Jahren zog er viereinhalb Millionen Menschen pro Jahr an. Laut Time gab der durchschnittliche Besucher bei seinem Ausflug in Disneyland 4,90 Dollar aus, 2,72 Dollar für Karussellfahrten und Eintritt, 2 Dollar für Essen und 18 Cents für Souvenirs. Das erscheint mir heute durchaus erschwinglich – schwer zu glauben, dass es damals nicht erschwinglich war –, doch augenscheinlich waren die Preise horrend. Und so klagten denn auch in den ersten beiden Jahren die Leute am meisten über die Kosten, berichtete die Time .
Von unserer Gegend aus fuhr man nur nach Disneyland, wenn der Vater Gehirnchirurg oder Kieferorthopäde war. Für alle anderen war es zu weit und zu teuer. Für uns kam es absolut nicht in Frage. Mein Vater liebte zwar nichts mehr, als uns alle ins Auto zu stopfen und weit wegzufahren, doch nur, wenn die Trips billig und lehrreich waren und es um irgendeinen vergessenen Aspekt der glorreichen Vergangenheit der Vereinigten Staaten ging, gemeinhin also um Gemetzel, bitterste Not und Entbehrung oder die Zustellung der Post im Galopp. Für 15 Cents die Fahrt in Teetassen zu kreisen war das krasse Gegenteil.
Der Tiefpunkt des Jahres kam bei uns zu Hause immer mitten im Winter, wenn mein Vater sich in sein Zimmer zurückzog und das Ziel für unseren nächsten Sommerurlaub ausbaldowerte. Dabei verschwand er hinter einem enormen Haufen von Straßenkarten, Reiseführern, modrigen Schwarten zur amerikanischen Geschichte sowie Broschüren von Gemeinden, die völlig überrascht über sein Interesse und zugleich dankbar dafür waren.
»Also, meine Lieben«, verkündete er, wenn er nach zwei, drei Abenden eingehenden Studiums wieder auftauchte, »dieses Jahr sollten wir meiner Meinung nach die Schlachtfelder des wenig bekannten Krieges der philippinischen Hausboys besuchen.« Dann starrte er uns mit einem Blick an, als wolle er uns auffordern, unverzüglich laut und entzückt zuzustimmen.
»Ach, davon habe ich ja noch nie gehört«, sagte meine Mutter bedachtsam.
»Gut, es war auch eher ein Gemetzel als ein Krieg«, gab er zu. »Und in drei Stunden vorbei. Aber es liegt ganz in der Nähe des Nationalmuseums für landwirtschaftliche Geräte in Haystacks. Offenbar haben sie dort mehr als 700 Hacken.«
Während er uns das erzählte, breitete er eine Karte der westlichen Vereinigten Staaten aus und zeigte auf eine ausgedörrte Ecke von Kansas, Nord- oder Süddakota, die kein Fremder je freiwillig betreten hatte. Wir fuhren fast immer gen Westen, doch nie bis Disneyland oder Kalifornien, ja nicht einmal bis zu den Rockies. Es gab zu viele Grassodenhäuser in Nebraska, die wir vorher besichtigen mussten.
»Es gibt auch
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