Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
Vater von der World Series in ungewöhnlich guter Laune zurückkam und seine überraschenden Pläne enthüllte, über Weihnachten mit uns eine Reise zu einem geheimnisvollen Ort zu machen.
»Wartet’s nur ab. Es wird euch gefallen. Ihr werdet schon sehen«, war alles, was er sagte; einerlei, wer fragte. Schon der bloße Gedanke war unbeschreiblich aufregend und zugleich enervierend – wir gehörten schließlich nicht zu den Leuten, die etwas derartig Übereiltes, Plötzliches, für die Jahreszeit Ungewöhnliches taten. Als am Nachmittag des 16. Dezember also Greenwood, meine Grundschule, ihre glücklichen Horden in die verschneiten Straßen entließ, in drei herrliche Wochen weihnachtlicher Erholung (und damals waren die Schulferien, lassen Sie mich das sagen, anständig und üppig bemessen), wartete der Ford Rambler der Familie draußen, dampfte reichlich, ja sogar ungeduldig und war bereit, eine Spur durch die verschneite Prärie zu ziehen. Wie üblich fuhren wir gen Westen, überquerten den mächtigen Missouri bei Council Bluffs und ließen Omaha hinter uns. Dann ging es einfach immer nur weiter. Wir fuhren scheinbar (nein, tatsächlich!) tagelang über die stoppeligen, schneeverwehten, unendlichen Great Plains, an einer verführerischen Attraktion nach der anderen vorbei – Pony-Express-Stationen, Büffelsalzlecken, einem hübschen großen Felsen –, ohne dass mein Vater sie auch nur eines Blickes gewürdigt hätte. Meine Mutter sah allmählich ein wenig besorgt drein.
Als wir am dritten Morgen die Rockies erblickten – und ich zum ersten Mal in meinem Leben am Horizont etwas anderes als Horizont sah, fuhren wir trotzdem immer weiter, in die zerklüfteten Berge hinauf und hindurch und auf der anderen Seite wieder hinunter. In Kalifornien tauchten wir dann wieder auf, in Wärme und Sonnenschein, und erlebten eine Woche lang seine Wunder – seine mächtigen Mammutbaumwälder, das saftig grüne Imperial Valley, Big Sur, Los Angeles – sowie das köstlich komische Gefühl warmen Sonnenlichts auf Gesicht und nackten Armen im Dezember: einen Winter ohne Winter.
Selten hatte ich meinen Vater – was sage ich? Nie! – so spendabel und unbekümmert gesehen. An einer Lunchtheke in San Luis Obispo sagte er mir, drängte mich geradezu, ich solle mir einen großen Schokokaramellbecher bestellen, und als ich sagte: »Ganz bestimmt, Dad?«, erwidertete er: »Na, los doch, du lebst nur einmal« – eine Bemerkung, die ihm nie zuvor über die Lippen gekommen war, auf jeden Fall nicht in einer Umgebung, in der man Geld ausgab.
Am ersten Weihnachtsfeiertag machten wir einen Spaziergang am Strand von Santa Monica, und am nächsten Tag stiegen wir ins Auto und fuhren auf einem kurvenreichen Freeway durch das dunstige, warme, endlose anonyme Los Angeles. Schließlich parkten wir auf einem riesigen Parkplatz, der beinahe komisch leer war – außer unserem stand dort nur ein halbes Dutzend Autos (keines aus Kalifornien) –, und schlenderten dann ein paar Schritte zu einem noblen Eingangstor, wo wir, die Hände in den Taschen, stehen blieben und das herrliche schmiedeeiserne Kunstwerk betrachteten.
»Na, Billy, weißt du, was das ist?«, fragte mein Vater völlig überflüssigerweise. Welches Kind auf der ganzen weiten Welt hätte dieses legendäre Tor nicht erkannt?
»Disneyland«, sagte ich.
»Allerdings«, sagte er und betrachtete das Tor anerkennend, als habe er es höchstpersönlich in Auftrag gegeben.
Eine Minute lang fragte ich mich, ob wir nur gekommen waren, um das Tor zu bewundern, und im nächsten Moment wieder ins Auto steigen und woanders hinfahren würden. Doch nein, mein Vater hieß uns an Ort und Stelle warten und schritt zielstrebig auf ein Eintrittskartenhäuschen zu, wo er eine kurze, doch bemerkenswert fröhliche Transaktion vollzog. Zum ersten Mal in meinem Leben sah ich, dass gleichzeitig zwei Zwanzigdollarscheine die Brieftasche meines Vaters verließen. Während er an dem Schalter wartete, schenkte er uns ein breites Lächeln und winkte uns zu.
»Habe ich Leukämie oder so was?«, fragte ich meine Mutter.
»Nein, Süßer«, erwiderte sie.
»Hat Dad Leukämie?«
»Nein, Süßer, allen geht’s gut. Dein Vater ist nur gerade in Weihnachtsstimmung.«
Zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben vorher oder nachher war ich erstaunter, dankbarer oder glücklicher als an diesem ganzen Tag. Wir hatten Disneyland praktisch für uns allein. Wir machten alles – kreisten in menschengroßen Teetassen,
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