Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit
veritable Überraschung, als die Eieruhr unsere Befreiung einläutete und Mr. Milton aufsprang, anfing, den Kopf hin und her zu drehen und Streckübungen mit den Armen zu machen, und verkündete, er werde einen Sprung vom Sprungturm wagen. Er war nämlich ein kleinerer Kunstsprungstar an der Lincoln Highschool gewesen und versäumte nie, jeden, der länger als drei Minuten in seiner Gesellschaft verbrachte, darauf hinzuweisen. Aber auf einem Dreimeterbrett in einer Schwimmhalle! Der Sprungturm am Ahquabisee war eine andere Größenklasse. Er hatte offensichtlich den Verstand verloren, aber Mrs. Milton blieb bemerkenswert ungerührt. »Okay, Schatz«, erwiderte sie cool von unter einem grotesken Hut hervor. »Du kriegst auch ein Fig Newton von mir, wenn du zurückkommst.«
Die Neuigkeit von der irrsinnigen Absicht des Mannes, der wie Goofy aussah, hatte sich schon am Ufer entlang verbreitet, als Mr. Milton im leichten Laufschritt zum Wasser eilte und mit gleichmäßigen Zügen zur Plattform hinausschwamm. Als er dort ankam, war er bloß ein winziges, weit entferntes Strichmännchen, doch selbst aus einer solchen Distanz schien das Sprungbrett Hunderte Meter über ihm zu dräuen – ja, es sah aus, als kratze es an den Wolken. Mr. Milton brauchte mindestens 20 Minuten, um die Zickzackleitern bis oben hochzuklettern. Auf dem Gipfel angekommen, schritt er auf dem Sprungbrett auf und ab, das wahnsinnig lang war – musste es auch sein, damit es über den Rand der Plattform reichte –, sprang zur Probe zwei-, dreimal in die Höhe, atmete ein paarmal tief durch und stellte sich schließlich am festen Ende, die Arme seitlich am Körper, in Positur. Von seiner Haltung und startbereiten Pose war klar, er wagte es.
Mittlerweile hatten alle Leute am Ufer und im Wasser – insgesamt mehrere Hundert – in ihrem Tun innegehalten und schauten schweigend zu. Mr. Milton stand geraume Zeit still, hob dann mit einem hübschen Hauch Dramatik die Arme, rannte wie von der Tarantel gestochen über das lange Sprungbrett – denken Sie an einen Kunstturner, der bei Olympischen Spielen mit voller Geschwindigkeit zu einem in einiger Entfernung stehenden Absprungbrett rast, und Sie haben eine ungefähre Vorstellung –, sprang einmal gewaltig hoch und warf sich dann in einem perfekten Schwalbensprung weit und hoch hinaus. Ich muss sagen, es war ein herrlicher Anblick. Er fiel mit makelloser Eleganz – scheinbar minutenlang. So schön waren der Moment und das atemlose Schweigen der zuschauenden Menschenmassen, dass man über den ganzen See nur das schwache Pfeifen seines Körpers hören konnte, der durch die Luft aufs weit, weit unter ihm liegende Wasser zuraste. Vielleicht habe ich es mir nur eingebildet, doch nach einer Weile schien er rot zu werden wie ein herabfallender Meteor. Aber er bewegte sich wirklich .
Ich weiß nicht, was passiert ist – ob er die Nerven verlor oder begriff, dass er mit mörderischem Tempo aufs Wasser zuschoss, oder sonst irgendwas –, er besann sich jedenfalls nach drei Vierteln des Weges hinunter in der ganzen Angelegenheit noch mal und fing an um sich zu schlagen, als habe er einen Alptraum und sich dabei im Bettzeug verfangen oder als sei sein Fallschirm nicht aufgegangen. Vielleicht zehn Meter über dem Wasser hörte er auf, um sich zu schlagen, und versuchte eine neue Taktik. Er breitete Arme und Beine weit in X-Form aus und hoffte augenscheinlich, dass es seinen Fall verlangsamen würde, wenn er ein Höchstmaß an Oberfläche bot.
Dem war nicht so.
Er schlug – »prallte« ist das richtige Wort – mit mehr als 900 Stundenkilometern auf dem Wasser auf, und der Knall war so laut, dass selbst fünf Kilometer weiter Vögel noch aus den Bäumen aufflogen. Bei der Aufschlaggeschwindigkeit wird Wasser praktisch zum Festkörper. Ich glaube auch, Mr. Milton tauchte gar nicht ein, sondern wurde, mit plötzlich erschlafften Armen und Beinen, etwa fünf Meter wieder hochkatapultiert, fiel zurück, blieb dann auf der Oberfläche reglos liegen und drehte sich langsam wie ein Herbstblatt. Zwei vorbeikommende Angler in einem Ruderboot schleppten ihn ans Ufer, ein Dutzend Zuschauer trug ihn zu einem Rasenstück und bettete ihn dort vorsichtig auf eine alte Decke, wo er, auf dem Rücken liegend und Arme und Beine leicht angewinkelt und hochgestellt, den restlichen Nachmittag verbrachte. Jeder Zentimeter seiner Körperoberfläche, von seiner beginnenden Glatze bis zu seinen Zehennägeln sah roh und wie abgeschliffen
Weitere Kostenlose Bücher