Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit

Titel: Mein Amerika: Erinnerungen an eine ganz normale Kindheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bill Bryson
Vom Netzwerk:
sagte meine Mutter. »Du bist doch auch bei seiner Pyjamaparty gewesen.«
    »Mom, das war die schlimmste Nacht meines Lebens. Weißt du das denn nicht mehr? Mrs. Milton hat mich gezwungen, überbackenes Erbrochenes zu essen. Und dann hat sie mich gezwungen, Miltons Zahnbürste zu benutzen, weil du vergessen hattest, meine einzupacken.«
    »Wirklich?«, sagte meine Mutter.
    Ich nickte mit gequältem Stoizismus. Sie hatte mir aus Versehen den Kulturbeutel meiner Schwester mitgegeben. Darin waren zwei in Papier eingewickelte Tampons und eine Duschkappe, aber weder meine Zahnbürste noch die geheime Mitternachtsleckerei, die sie mir hoch und heilig verprochen hatte.
    Den Rest des Abends trommelte ich mit den Tampons auf dem Kopf des im Koma liegenden Milton herum.
    »Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie so gelangweilt. Das habe ich dir doch alles erzählt.«
    »Wirklich? Ich kann mich gar nicht erinnern.«
    »Mom, ich musste Milton Miltons Zahnbürste benutzen, nachdem er Fig Newtons gegessen hatte.«
    Jetzt zuckte sie wenigstens mitfühlend zusammen.
    »Bitte, zwing mich nicht, mit ihnen zum Ahquabisee zu fahren.«
    Sie überlegte kurz. »Na, gut«, sagte sie. »Aber dann musst du leider mit uns kommen Schwester Gonzaga besuchen.«
    Schwester Gonzaga war eine Großtante mit eindrucksvollem Gebaren und noch eine der vielen Nonnen im mütterlichen Zweig meiner Familie. Sie war 1,80 Meter groß und wahrhaft Furcht erregend. Seit langem hegte man in der Familie den Verdacht, dass sie eigentlich ein Mann sei. Man hatte immer den Eindruck, dass unter all dem steifen Leinen reichlich Brustbehaarung war. Im Sommer 1959 lag Schwester Gonzaga in einem Des Moineser Krankenhaus im Sterben, beeilte sich aber, wenn Sie mich fragen, beileibe nicht damit. Ein Nachmittag in Schwester Gonzagas Zimmer im Heim für sterbende Nonnen (ob das der Name war, weiß ich natürlich nicht mehr genau) war wahrscheinlich das Einzige, das schlimmer war als ein Tagesausflug mit den Miltons.
    Eingequetscht in die uralte Sardinenbüchse der Miltons, ein Auto der Marke Nash mit dem Komfort, der Eleganz und Geschmeidigkeit einer Gefriertruhe, fuhr ich also in einer Stimmung düsterer Ergebenheit mit zum Ahquabisee, erwartete das Schlimmste und wurde nicht enttäuscht. Eine Stunde verirrten wir uns zunächst einmal unter heftigen Wortwechseln in unmittelbarer Nähe des Capitol von Iowa – einer normalen Familie wäre das in Des Moines nie gelungen –, und als wir den See dann endlich erreichten, verbrachten wir weitere eineinhalb Stunden damit, unter viel zusätzlichem Disputieren das Auto auszuladen und auf dem schattigen Rasen neben dem schmalen künstlichen Strand ein Basislager zu errichten. Mrs. Milton verteilte Sandwiches, die mit einer rosafarbenen Paste bestrichen waren, die aussah wie das Zeug, mit dem meine Großmutter ihr Gebiss am Gaumen befestigte, und es vielleicht sogar auch war. Ich ging mit meinem Sandwich jedenfalls ein wenig spazieren und überließ es einem Hund, der aber nichts davon wissen wollte. Selbst eine Ameisenkolonne, sah ich später, hielt einen Meter Abstand.
    Nach dem Essen mussten wir 45 Minuten lang stillsitzen, bevor wir schwimmen durften, denn wir hätten ja Krämpfe kriegen und in dem 15 Zentimeter tiefen Wasser eines grauslichen Todes sterben können. Weiter wagten sich junge männliche Wesen ohnehin nicht hinein, denn die Gerüchte wollten nie verstummen, dass in den kaffeefarbenen Tiefen des Ahquabisees bösartige Schnappschildkröten hausten, die die Schniepel kleiner Jungs mit leckerem Futter verwechselten. Mrs. Milton maß die Ruhepause mit einer Eieruhr und regte uns an, die Augen zu schließen und ein Nickerchen zu machen, bis wir schwimmen konnten.
    Weit draußen im See war eine große Holzplattform vertäut, auf der ein unglaublich hohes Sprungbrett stand – eine Art hölzerner Eiffelturm. Ich bin sicher, es war die höchste Holzkonstruktion in Iowa, wenn nicht im Mittleren Westen. Da sie aber so weit vom Ufer entfernt war, verirrte sich kaum jemand dorthin. Ganz selten einmal schwammen ein paar tollkühne Teenager dort hinaus und schauten sich um. Manchmal kletterten sie die vielen Leitern zu dem hohen Sprungbrett hinauf und krochen sogar vorsichtig bis zu dessen Spitze, doch sie zogen sich stets wieder zurück, wenn sie sahen, wie selbstmörderisch tief das Wasser unter ihnen lag. Niemand wusste, ob überhaupt einmal ein menschliches Wesen von dort hinuntergesprungen war.
    Deshalb war es eine

Weitere Kostenlose Bücher