Mein Auge ruht auf dir - Thriller
Jonathan bei seinem letzten Besuch die Beziehung zu Lillian Stewart beendet hat«, sagte Lloyd Scott. »Wenn das der Fall ist und sie tatsächlich im Besitz des Pergaments war, hat sie es ihm vielleicht zurückgegeben, und die Staatsanwaltschaft sollte es in einem der Kartons finden. Zu bedenken ist, dass wir uns bislang lediglich auf ihre Aussage stützen, wonach sie und Jonathan in diesen Tagen keinen Kontakt mehr gehabt haben. Oder, und auch das ist möglich, Lillian hat sich aus Wut geweigert, das Pergament wieder herauszurücken, worauf er dann über ein anderes Telefon mit ihr Kontakt aufgenommen haben müsste.«
Mariah spürte, wie eine Zentnerlast von ihr abfiel. »Sosehr ich mich dagegen auch gesträubt habe, aber bis jetzt habe ich im Stillen geglaubt, meine Mutter hätte in ihrer Unzurechnungsfähigkeit und Eifersucht meinen Vater umgebracht«, sagte sie leise. »Jetzt glaube ich das nicht mehr. Ich glaube, es gibt eine andere Erklärung, und wir sollten sie finden.«
Lloyd Scott erhob sich. »Mariah, ich muss mir das alles erst noch mal in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen und überlegen, was wir der Staatsanwaltschaft mitteilen. Ich werde Sie morgen um halb acht abholen. Dann haben wir noch genügend Zeit, bevor wir um neun im Gericht erscheinen müssen. Ich wünsche Ihnen allen eine gute Nacht.«
27
A ls Mariah am Sonntagabend endlich zu Bett ging, fiel ihr ein, dass sie Rory noch gar nicht angerufen und ihr gesagt hatte, dass sie am nächsten Morgen nicht zu kommen brauche. Jetzt war es zu spät dafür. Außerdem, überlegte sie, hatte Rory sicherlich die Abendnachrichten gesehen. Und wenn, dann hätte man doch erwarten können, dass Rory ihrerseits anrief und ihr Mitgefühl zum Ausdruck brachte.
So war Mariah am nächsten Morgen um sieben Uhr sichtlich überrascht, als sie, bereits fertig gekleidet, in der Küche eine Tasse Kaffee trank und die Eingangstür hörte. Kurz darauf wurde sie von Rory begrüßt. »Mariah, es tut mir ja so leid, was alles passiert ist. Ihre arme Mutter! Nie hätte sie jemandem etwas angetan, wenn sie noch recht bei Verstand gewesen wäre.«
Warum klingt ihre Anteilnahme so unaufrichtig?, fragte sich Mariah. »Meine arme Mutter hat niemandem etwas angetan, Rory, egal, ob sie recht bei Verstand ist oder nicht.«
Rory wirkte nervös. Ihr allmählich grau werdendes Haar war zu einem Knoten gebunden, aus dem sich wie immer einige Strähnen lösten. Ihre Augen, die hinter der dicken Brille noch größer wirkten, schimmerten feucht. »Ach, Mariah, meine Liebe, ich wollte weder Sie noch Ihre Mutter kränken. Aber jeder glaubt doch, dass ihre Demenz für die Tragödie verantwortlich ist. In den Nachrichten habe ich gehört, dass sie im Gefängnis ist und heute Morgen dem Richter vorgeführt wird. Ich hoffe, sie wird gegen Kaution freigelassen, deshalb bin ich hier, damit ich mich um sie kümmern kann.«
»Das ist sehr aufmerksam von Ihnen«, entgegnete Mariah. »Sollte der Richter Mom wirklich nach Hause lassen, werde ich Ihre Hilfe brauchen. Letzte Woche war ich kein einziges Mal im Büro, allmählich muss ich mich wieder um ein paar Dinge kümmern.«
Punkt halb acht klingelte Lloyd Scott an der Tür. »Ich hoffe, Sie haben etwas Schlaf gefunden, Mariah«, begrüßte er sie.
»Nicht viel. Ich war zwar ziemlich erschöpft, gleichzeitig aber so aufgewühlt, weil ich mir ständig den Kopf darüber zermartert habe, wie wir beweisen können, dass Mom nicht die Täterin ist.«
»Mariah, wollen Sie, dass ich mit zum Gerichtsgebäude komme, falls Kathleen wirklich freigelassen wird?«, fragte Rory.
» Das ist nicht nötig«, antwortete Scott an Mariahs Stelle, »ich kann Ihnen versichern, dass der Richter zuerst ein psychiatrisches Gutachten verlangen wird, bevor er sie auf Kaution freisetzt. Und so ein Gutachten dürfte mindestens zwei bis drei Tage dauern.«
»Fahren Sie nach Hause, Rory. Ich werde Sie natürlich so lange bezahlen, bis absehbar ist, wann Mom frei kommt. Ich rufe Sie dann an«, ergänzte Mariah.
»Aber …«, wollte Rory schon protestieren, gab dann aber widerstrebend nach. »Gut, ich hoffe nur, Sie brauchen mich bald wieder.«
Im Gerichtsgebäude in Hackensack begleitete Lloyd Mariah in den im dritten Stock gelegenen Sitzungssaal von Richter Kenneth Brown. Sie warteten schweigend auf der Bank im Flur, bis die Türen geöffnet wurden. Es war erst Viertel nach acht, innerhalb der nächsten halben Stunde aber würde es vor Medienleuten nur so wimmeln.
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