Mein Auge ruht auf dir - Thriller
»Mariah, kurz vor Erscheinen des Richters wird man Ihre Mutter in die angrenzende Zelle bringen«, sagte Lloyd zu ihr. »Ich werde zu ihr gehen und mit ihr reden. Der Gerichtsdiener wird mir Bescheid geben. Warten Sie solange in der ersten Reihe. Und noch einmal, Mariah: kein Wort zur Presse, egal wie sehr es Ihnen auf der Seele brennt.«
Mariahs Mund war wie ausgedörrt. Sie hatte überlegt, wieder die schwarz-weiße Jacke anzuziehen, die sie schon bei der Beerdigung getragen hatte, sich dann aber für einen hellblauen Hosenanzug aus Leinen entschieden. Nervös wickelte sie sich den Riemen ihrer blauen Handtasche um den Finger.
»Keine Sorge, Lloyd. Ich werde nichts sagen«, antwortete sie schließlich.
»Gut. Die Türen sind auf. Gehen wir hinein.«
Im Lauf der folgenden halben Stunde füllte sich der Gerichtssaal mit Journalisten und Kamerateams. Zehn vor neun trat ein Gerichtsdiener auf Lloyd zu: »Mr. Scott, Ihre Mandantin ist jetzt in der Zelle.«
Lloyd nickte und erhob sich. »Mariah, ich komme zurück, kurz bevor Ihre Mutter hereingeführt wird.« Er tätschelte ihre Schultern. »Keine Sorge.«
Mariah nickte, richtete den Blick starr nach vorn und nahm kaum wahr, dass sie fotografiert wurde. Sie sah, wie der Staatsanwalt mit einer Akte unter dem Arm erschien und neben der Geschworenenbank am Tisch der Anklage Platz nahm. Erst in diesem Moment überkam sie fürchterliche Angst. Was, wenn Mom aufgrund irgendeiner absurden Entscheidung wirklich der Prozess gemacht werden soll und die Geschworenen sie für schuldig befinden?, dachte sie verzweifelt. Ich würde es nicht ertragen. Ich würde es einfach nicht ertragen.
Lloyd trat schließlich aus einer Seitentür und nahm an seinem Tisch Platz. Der Gerichtsdiener verkündete: »Erheben Sie sich!« Der Richter trat in den Raum, wandte sich an den Gerichtsdiener und sagte: »Bringen Sie bitte die Beschuldigte herein.«
Die Beschuldigte, dachte Mariah. Kathleen Lyons, die Beschuldigte, deren einziges »Verbrechen« darin bestand, allmählich den Verstand zu verlieren.
Erneut ging die Tür auf, durch die Lloyd gekommen war. Diesmal erschienen zwei Polizistinnen, die Kathleen zu Lloyd führten. Kathleens Haare waren zerzaust, sie trug einen orangefarbenen Overall, auf dessen Rücken in schwarzen Buchstaben »BCJ« stand – die Abkürzung für »Bergen County Jail«. Hilfe suchend sah sie sich um, bis sie Mariah erblickte. Dann traten ihr Tränen in die Augen. Entsetzt erkannte Mariah erst jetzt, dass ihre Mutter Handschellen trug. Davor hatte Lloyd sie nicht gewarnt.
Der Richter ergriff das Wort: »In der Sache Bundesstaat New Jersey gegen Kathleen Lyons aufgrund Haftbefehl 2011 Strich 000 Strich 0233, bekunden Sie bitte Ihr Erscheinen.«
»Euer Ehren, in Vertretung des Bundesstaates, Stellvertretender Generalstaatsanwalt Peter Jones.«
»Euer Ehren, in Vertretung von Kathleen Lyons, Lloyd Scott. Ich vermerke, dass meine Mandantin, Mrs. Lyons, im Gerichtssaal anwesend ist.«
»Mrs. Lyons«, sagte der Richter, »dies ist die Anklageerhebung und Ihre erste Anhörung vor Gericht. Der Staatsanwalt wird die Anklage zu Protokoll geben, anschließend wird sich Ihr Anwalt in Ihrem Namen äußern. Daraufhin werde ich Höhe und Bedingungen der Kaution festlegen.«
Kathleen erkannte offensichtlich, dass er zu ihr sprach. Sie sah zu ihm, drehte sich aber schnell wieder zu Mariah um. »Ich will nach Hause«, wimmerte sie. »Ich will nach Hause.«
Traurig lauschte Mariah, wie der Staatsanwalt die Anklageerhebung wegen Mordes und Besitzes einer Feuerwaffe zu ungesetzlichen Zwecken vorlas, worauf Lloyd mit einem entschiedenen »Nicht schuldig« antwortete.
Richter Brown forderte daraufhin die Anwälte auf, ihre Argumente hinsichtlich der Kautionsfestsetzung vorzutragen. »Staatsanwalt Jones, Mrs. Lyons ist erst gestern verhaftet worden, daher ist noch keine Kaution festgesetzt. Ich höre Ihre Empfehlungen, dann kann Mr. Scott sich dazu äußern.«
Der Staatsanwalt argumentierte, aufgrund der vorliegenden schlüssigen Beweise empfehle er eine Kaution von fünfhunderttausend Dollar. Vor der Freisetzung der Beschuldigten aber wolle er ein stationär erstelltes psychiatrisches Gutachten, damit der Richter »angemessene Bedingungen zum Schutz der Allgemeinheit« festlegen könne.
Die Allgemeinheit vor meiner Mutter schützen? Mariah konnte ihre Empörung nur mit Mühe verbergen. Sie müsste beschützt werden, nicht die Allgemeinheit vor ihr!
Lloyd Scott war an der Reihe.
Weitere Kostenlose Bücher