Mein bis in den Tod
»Warum?«
»Ist nicht wichtig.«
»Was haben Sie gesehen?«
»Ich möchte Sie nicht beunruhigen.«
»Vor einer Minute war ich noch ganz ruhig, aber nun haben Sie mir Angst gemacht.«
»Kein Grund zur Sorge. Ihre Gesundheitslinie zeigt …« Er verstummte.
»Was?«
»Ein mögliches Problem. Sie müssen nur ein wenig darauf Acht geben. Es muss nicht unbedingt etwas bedeuten.«
»Was für ein Problem?«
Er zuckte mit den Schultern. »Könnte alles sein. Sorgen Sie nur dafür, dass Sie sich regelmäßig untersuchen lassen.«
Das habe ich soeben
, hätte sie beinahe geantwortet.
Heute Vormittag
. Irgendwie musste er aufgeschnappt haben, dass sie einen Erreger in sich trug. Vielleicht konnte er das an ihren Augen, ihrer Haut oder irgendwas anderem ablesen. »Ist das Ihr Beruf?«, fragte sie ungläubig. »Handleser?«
Er lachte. »Ich kann aus der Hand lesen, aber ich bin kein Wahrsager. Ich interessiere mich für die unterschiedlichen Weisen, auf die das Äußere zeigen kann, was in unserem Inneren geschieht.«
»Was machen Sie also genau? Sind Sie Arzt?«
»Haben Sie schon mal etwas vom Cabot-Zentrum für Komplementäre Medizin gehört?«
Den Namen kannte sie. Ihr war, als hätte sie kürzlich in den Zeitungen etwas darüber gelesen. Dann fiel es ihr ein. »In der
Times
, ungefähr vor einem Monat. Waren Sie das, der diesen fulminanten Angriff auf den Ärztestand startete?«
Er rührte nachdenklich in seinem Espresso. »Nichts gegen Ihren Mann, aber der durchschnittliche Arzt in so gut wie allen westlichen Ländern ist eine Marionette. Ein an Händen und Füßen gebundener Bürokrat, der eine zehnjährige vergeudete Ausbildung auf dem Buckel hat. Ein Opfer.«
»Von was?«
»Eines Systems, an dessen Aufbau er mitgewirkt hat, im Glauben, es würde die Welt verbessern. Stattdessen hat es manche Unternehmen so reich gemacht, dass sie sich solch groteske Bankette wie gestern Abend leisten können.«
»Aber Sie hatten kein Problem damit, die Gastfreundschaft dieses Konzerns anzunehmen?«
»Ich war gewissermaßen dort, um zu spionieren. In Wahrheit bin ich ein ganz normaler Arzt für Allgemeinmedizin mit Kassenzulassung – ich praktiziere nur nicht als solcher.«
»Erzählen Sie mir etwas über das Cabot-Zentrum für Komplementäre Medizin.«
»Sie sollten es sich einmal ansehen – wir leisten da wirklich interessante Arbeit.«
»Welcher Art?«
»Interdisziplinäre Forschungen. Wir haben eine homöopathische Abteilung, machen Osteopathie, Akupunktur, Hypnotherapie, Chronotherapie –«
»Chronotherapie?«
»Eine noch junge Therapieform. Es geht dabei um die innere Uhr des Menschen. Wir erforschen die zirkadianen Rhythmen. Es gibt einige Hinweise darauf, dass der menschliche Organismus nicht einem 24-Stunden-Zyklus folgt, sondern einem 25,5-Stunden-Rhythmus, was uns auf diesem Planeten einzigartig macht. Ich glaube, dass dies zahlreiche unserer gesundheitlichen Probleme verursacht. Lassen Sie mich Ihnen irgendwann unsere Klinik zeigen – oder ist es der Frau eines renommierten Schönheitschirurgen verboten, mit einem Quacksalber, wie ich es bin, zu reden?«
Sie lächelte. Ross lehnte nahezu alle Formen, die von der traditionellen Schulmedizin abwichen, kategorisch ab. Sie hatten schon oft darüber gestritten. Einmal, als sie auf Empfehlung einer Freundin nach einem Skiunfall Akupunktur ausprobiert hatte, war er regelrecht wütend geworden. Nein, mehr als das. Er war vor Wut geradezu geplatzt.
In Ross’ Augen war die moderne westliche Schulmedizin die einzige, die man überhaupt in Erwägung ziehen durfte, wenn man bei Verstand war. Es ärgerte ihn zutiefst, dass man sich nach einem nicht allzu langen Fernkursus als Heilpraktiker niederlassen konnte, denn er selbst hatte fast zwölf Jahre als Student und Assistenzarzt verbracht und beinahe alles gelernt, was es über jedes Molekül im menschlichen Körper zu erfahren gab.
Ross hasste Alternativmediziner noch mehr als die Scharlatane der Schönheitschirurgie – jene Ärzte, die eine Klinik für kosmetische Chirurgie ohne eine Ausbildung im Fach Plastisch-kosmetische Chirurgie eröffnen und praktizieren durften.
»Vielleicht würde Ihr Mann gern mitkommen? Bei vielen unserer Behandlungen und Therapien geht es um postoperative Nachsorge.«
Sie war enttäuscht. War dies hier nur ein Werbegespräch? Und sie konnte sich auch schon Ross’ verdrießliche Miene vorstellen. »Ich glaube nicht – ich meine, er hat unglaublich viel zu tun.«
Gott
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